Ganz schnell soll es jetzt gehen: Binnen zwei Wochen will die Bundesregierung angeblich den neuen Versuch einer Vorratsdatenspeicherung für Telefon, Internet und Co. durchpeitschen. Man kann nun versuchen, sich in den paar Tagen an den 55 Seiten Gesetzentwurf abzuarbeiten. Man kann auch einfach an das 1. Semester Jura, Grundkurs Öffentliches Recht, zurückdenken. Da lernen die Uni-Frischlinge die „Verhältnismäßigkeitsprüfung“ kennen. Vielleicht sollte sich der Bundestag vor dem Vorratsdatenspeicherungsbeschluss Fachleute aus dem ersten Semester bestellen.
Der Entwurf
Der sofort geleakte Gesetzentwurf entspricht inhaltlich auf den ersten Blick im Wesentlichen dem, was die Bundesregierung an Eckpunkten vorstellt hatte – zehn Wochen „Mindestspeicherfrist“ für Telefon- und SMS-Verbindungsdaten und IP-Adressen, vier Wochen für Standortdaten (allerdings jeweils plus eine Woche Löschfrist). E-Mail-Verbindungsdaten sollen nicht auf Vorrat gespeichert werden. Berufsgeheimnisträger wie Ärzte, Rechtsanwälte und Journalisten und werden nur dadurch geschützt, dass die dem Berufsgeheimnis unterliegenden Daten gelöscht werden müssen und nicht verwendet werden dürfen. Neu eingeführt werden soll auch ein – sehr weit gefasster – Straftatbestand der Datenhehlerei.
Meckern über Einzelaspekte?
Man könnte sich nun an einzelnen Punkten des Gesetzentwurfs abarbeiten:
- Etwa dass Daten, die vorhanden sind, immer irgendwann missbraucht werden, so dass es reichlich egal ist, ob es später mal ein Verwendungsverbot gibt – zumal es in Deutschland ja die „Fruit of the poisonous tree“-Doktrin nicht gibt, so dass Verstöße vorhersehbar folgenlos bleiben dürften, weil durch die Nutzung der illegalen Beweismittel typischerweise andere verwendbare gefunden werden. Zudem muss man sich schon sehr dumm anstellen, wenn man sich als Polizist bei einer nicht-dienstlichen illegalen Datenabfrage erwischen lassen will. Jeder Hilfebedürftige, jeder Whistleblower wird sich dreimal überlegen, ob er wirklich anruft.
- Dass die „Datenhehlerei“ so weit gefasst ist, dass Whistleblowing schnell in den Dunstkreis der Strafbarkeit nach dieser Vorschrift kommt.
- Dass freie WLANs, wenn die Bundesregierung sie nicht schon eventuell mit ihrem – wie ich es nannte – Gesetz zur Abschaffung freier WLANs – tot bekommt (ausführlich Mantz/Sassenberg, „Die Neuregelung der Störerhaftung für öffentliche WLANs“, CR 2015, 298 ff.), letztlich dadurch erledigt würden, weil sie der (extrem teuren) Pflicht zur Vorratsdatenspeicherung unterliegen würden. Denn § 113b Abs. 3 TKG-RefE verpflichtet alle „Erbringer öffentlich zugänglicher Internetzugangsdienste“ zur Vorratsspeicherung u.a. einer eindeutigen Kennung.
- Dass es wegen der Löschfrist elf und fünf Wochen und nicht zehn und vier Wochen sind.
- Dass vorratsgespeicherte IP-Adressen – anders als vorratsgespeicherte Telefondaten – nicht nur zur Strafverfolgung, sondern auch für Geheimdienste, zur Gefahrenabwehr und sogar für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten verwendet werden dürfen (eine Ermächtigungsnorm für die jeweilige Behörde im „Doppeltürmodell“ [BVerfG, Beschl. v. 24.1.2012 – 1 BvR 1299/05, Rn 123 = CR 2012, 245 (247 zu C.I.2.a)) m. Anm. Schnabel] vorausgesetzt).
Bei genauerer Beschäftigung mit dem Entwurf werden sich sicherlich diverse weitere Probleme zeigen – bereits bei der PKW-Maut deckte sich bei genauer Betrachtung der Gesetzeswortlaut nicht mit den öffentlichen Angaben. Schon damals musste alles superschnell gehen – die Verbändeanhörung hatte eine Tages(!)frist zur Stellungnahme -, damit bloß keine ernsthafte Diskussion über Sinn, Unsinn und Nebenwirkungen möglich ist.
Meckern übers Grundsätzliche!
Aber es reicht schon, zurück ins erste Semester Jura zu gehen, zur Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die ist bekanntermaßen so aufgebaut:
- Legitimer Zweck?
- Geeignetheit?
- Erforderlichkeit?
- Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne)?
Über den legitimen Zweck müssen wir uns nicht streiten. In den Punkten Geeignetheit und Erforderlichkeit hat der Gesetzheber einen Beurteilungsspielraum, der nahezu immer dazu führt, dass diese Punkte nur abgehakt werden. Trotzdem lohnt es sich im Fall Vorratsdatenspeicherung, hier noch mal innezuhalten.
VDS bringt nix
Denn obwohl es mittlerweile jahrelange Erfahrungen mit teilweise extremen Vorratsdatenspeicherungen gibt, fehlt es an jedem Beleg, dass die Vorratsdatenspeicherung überhaupt etwas für die Bekämpfung schwerer Straftaten bringt.
Selbst im Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) – an dessen Ende die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung gekippt wurde – konnte keine Regierung, keine Polizei auch nur eines der 28 Mitgliedsstaaten auch nur den geringsten Beleg für einen Nutzen liefern. Vielmehr ergaben mehrere Studien, dass die Vorratsdatenspeicherung nutzlos war.
Statt dessen müssen wir uns Begründungen anhören, bei denen man sich fragt, ob die sie äußernden Politiker einfach nur keinerlei Ahnung von den Fakten haben – oder ob sie schlicht lügen:
- Etwa Sigmar Gabriel, als er die Festnahme des rechtsextremen Massenmörders Anders Breivik auf die Vorratsdatenspeicherung zurückführte, die es in Norwegen gar nicht gab.
- Oder wenn die Anschläge auf das Satireblatt Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt als Rechtfertigung der Vorratsdatenspeicherung herhalten müssen – obwohl Frankreich eine Vorratsdatenspeicherung hat und die Mörder polizeibekannt waren.
Daher ausnahmsweise fehlende Geeignetheit
Die Welt hat sich weiter gedreht, seit das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und der EuGH die Vorratsdatenspeicherung gekippt haben. Hinweise auf einen irgendwie gearteten Nutzen der Vorratsdatenspeicherung – von Kleinkriminalität abgesehen – gibt es aber weiterhin nicht. Daher sollten sich die Gerichte trauen, die Frage der Geeignetheit doch ausnahmsweise mal ernsthaft zu prüfen. Auch wenn das aus ihrer Sicht in die Kompetenzen des Gesetzgebers eingreifen mag.
Jedenfalls fehlende Verhältnismäßigkeit
Selbst wenn Karlsruhe es macht, wie man es in der Uni lernt – nur die Angemessenheit prüfen, den Rest der Prüfpunkte nur abhaken -, bleibt zu berücksichtigen: Die Vorratsdatenspeicherung behandelt alle Menschen als Verbrecher. Und leuchtet sie sehr detailliert aus. Da ist es egal, dass die Daten nur zehn Wochen plus eine Woche Löschfrist gespeichert bleiben sollen.
Dem enormen Eingriff in die Grundrechte aller Menschen in Deutschland steht kein feststellbarer Nutzen gegenüber – die Abwägung geht also recht einseitig gegen die Vorratsdatenspeicherung aus.
Vorratsdatenspeicherung bitte ohne Fortsetzung
Die „Vorratsdatenspeicherung I“ war nicht gerade ein Blockbuster, auch wenn sie die Telekommunikationswirtschaft – und über die Preise alle Unternehmen und Einwohner – mehr Geld als die Produktion der meisten Blockbuster gekostet hat. Wir brauchen daher keine Fortsetzung „Vorratsdatenspeicherung reloaded“.
Selbst wenn sich der Gesetzentwurf peinlich an die Drehbuch-Vorgaben von BVerfG und EuGH für die Details halten würde (wonach es nicht aussieht) – das Grundproblem, dass für null Kriminalitätsbekämpfung jeder Bürger als Krimineller behandelt wird, bleibt.
Es sei denn, die SPD denkt noch mal vorurteilsfrei nach. Jura-StudentInnen aus dem ersten Semster geben sicher gerne Nachhilfe.