In einem neuen Hochglanzflyer wirbt die EU-Kommission für die geplanten Reformen des Datenschutzrechts. Und es wird wieder einmal auf eine Umfrage verwiesen: 74 % der europäischen Bürger fordern, dass sie um ausdrückliche Zustimmung gebeten werden, bevor „ihre“ Daten im Internet gesammelt und verarbeitet werden (EU-Kommission, „Wie sollen die vorhandenen Datenschutzvorschriften durch die Datenschutzvorschriften der EU an neue technologische Entwicklungen angepasst werden?“, Factsheet 8 unter Bezug auf Punkt „3.1.3 Perceptions on individual’s consent for the processing of their personal data“ auf Seite 148 in EU-Commission, „Special Eurobarometer 359 – Attitudes on Data Protection and Electronic Identity in the European Union“, June 2011).
Nur 74 %? Eigentlich erstaunlich, denn wer wird eine solche Frage schon ernsthaft mit „Nein“ beantworten? Wenn es um Vorgänge geht, die uns persönlich betreffen, werden sich die meisten von uns ein Vetorecht wünschen. Und die Alternative zu einem „Ja“ ist allenfalls ein „Ist mir egal“.
Wertigkeit anderer Bedürfnisse
Dass wir uns ein Bestimmungsrecht über „unsere“ Daten wünschen, bedeutet nicht, dass es zugleich andere Bedürfnisse gibt, die einem solchen Recht entgegenstehen. Der mündige Bürger möchte das Internet nutzen, um sich zu informieren und mit anderen zu kommunizieren. Und eine freie Kommunikation ist unvorstellbar, wenn „Betroffene“ zunächst gefragt werden müssten, bevor man ihre Namen oder andere persönlichen Informationen nutzen darf. Die meisten von uns finden es richtig, dass ein FDP-Spitzenpoltiker nicht um Zustimmung gefragt werden muss, wenn eine junge Journalistin im STERN über seine „Herrenwitze“ plaudern möchte (vgl. Härting, „Dürfte der STERN über den Fall Brüderle berichten nach der DS-GVO?“, CRonline Blog v. 30.1.2013), wenngleich es auch Gegenstimmen gibt (Höcker, „Die Geschichte des Herrenwitzes ist eine Geschiche voller Missverständnisse“, VOCER v. 25.1.2013).
Auch bei den „Datenkraken“ Google, Twitter und Facebook, die sich durch datengestützte Werbung finanzieren, gibt es ein durchaus widersprüchliches Bild. Dass der Nutzer gerne gefragt werden würde, bevor „seine“ Daten dort zu Werbedaten verarbeitet werden, ist nicht verwunderlich. Zugleich wird die große Mehrzahl der User auf einen Dienst wie Twitter nicht verzichten wollen. Müsste Twitter wegen neuer Datenschutzgesetze auf das Tracking verzichten und seine Nutzer zur Kasse bitten: Ein Proteststurm wäre gewiss. Grüne Überlegungen, dass Datenschutz „ruhig etwas kosten dürfe“, entsprechen gewiss eher den Bedürfnissen von Dr. David-Jonas Besserverdiener als denen von Anne Normalsurferin (Härting, “Twitter in Europa demnächst kostenpflichtig? – Brüsseler Diskussion um Einwilligungsverbote”, CRonline Blog v. 22.1.2013).
Digitalisierung = „Datenkrakisierung“
Je mehr die Digitalisierung aller Lebensbereiche voranschreitet, desto mehr werden wir selbst auch zu „Datenkraken“. Jeder Besitzer von Laptops, Tablets und Smartphones verarbeitet tagtäglich unzählige persönliche Daten Dritter. Man denke nur einmal an die Speicherung von Telefonnummern, Anschriften und E-Mail-Adressen unzähliger Verwandter, Bekannter, Freunde, Kollegen und Geschäftspartner. Wo kämen wir hin, wenn wir jeden um Erlaubnis bitten müssten, bevor wir seine Telefonnummer auf unserem Smartphone abspeichern?
Konzepte für „praktische Konkordanz“?
- Privatsphäre,
- Selbstbestimmungsrecht,
- Kommunikation- und Informationsfreiheit,
- unternehmerische Freiheit und
- die fortdauernde Nutzbarkeit kostenloser Dienste:
All dies möchten wir zugleich. Und keinem dieser Bedürfnisse fehlt es an einer gesellschaftspolitischen Dimension und einem klaren Grundrechtsbezug. Es ist jetzt die Aufgabe des europäischen Gesetzgebers, einen neuen Anlauf zu wagen und Regelungen zu schaffen, die jedes dieser Anliegen zur Geltung bringt und die den Schutz der Privatsphäre nicht zum Nachteil anderer Freiheiten überhöht. Statt fragwürdiger Umfragen und Hochglanz-PR sind Konzepte für eine Datenschutzreform gefragt, die Modernität nicht nur behauptet, sondern verwirklicht.