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„Strategische Fernmeldekontrolle“ durch den BND: Um was geht es eigentlich?

avatar  Niko Härting

Um was geht es eigentlich bei dem 100 Mio. Euro schweren „Technikaufwuchsprogramm“ des Bundesnachrichtendienstes (BND), von dem der Spiegel gestern berichtet hat („100-Millionen-Programm: BND will Internet-Ãœberwachung massiv ausweiten“, Spiegel Online v. 16.6.2013)?

Abläufe bisheriger Fernmeldekontroll-Maßnahmen

Es geht um die „strategische Fernmeldekontrolle“, zu der der Pullacher Geheimdienst nach den §§ 5 ff. BND-Gesetz befugt ist. Wie die „strategische Fernmeldekontrolle“ genau funktioniert, dürften außerhalb des BND nur wenige Eingeweihte wissen. Zwei Entscheidungen des BVerfG können immerhin eine gewisse Vorstellung von den Abläufen vermitteln:

  • Ãœberwachungsansatz und -umfang im Kalten Krieg (BVerfG, Beschl. v. 20.6.1984 – 1 BvR1494/78, BVerfGE 67, 157ff.):  Die Entscheidung zeigt, dass es sich um ein Ãœberbleibsel aus dem Kalten Krieg handelt. Denn die „strategische Kontrolle“ bezog sich ausschließlich auf den Post- und Telefonverkehr mit der DDR und den anderen Staaten des Warschauer Paktes. Von 188,4 Mio. Briefen von und nach der DDR wurden immerhin 1,6 Mio. Briefe einer Kontrolle unterworfen. Hinzu kam eine nicht näher mitgeteilte Anzahl überwachter Telefonate.
  • Sinn und Zweck der Ãœberwachung:  Zum Zweck der „strategischen Kontrolle“ heißt es in der BVerfG-Entscheidung: „Zweck der strategischen Ãœberwachung ist die Gewinnung einer bestimmten Art prinzipiell nicht personenbezogener Nachrichten, die zur Information der Bundesregierung über verteidigungspolitische Tatsachen dienen… Ziel ist die Sammlung von sachbezogenen Informationen, nicht aber von personenbezogenen Daten… Es geht darum, aus Nachrichten (Mosaiksteinchen) über Sachverhalte im Sinne des § 3 G 10 – etwa auch in der Zusammenschau mit Erkenntnissen aus anderen Quellen – verteidigungspolitisch relevante Tatsachen zu gewinnen, also um die nachrichtendienstliche Erkenntnis von Tatsachen zur rechtzeitigen Aufklärung bewaffneter Angriffe auf die Bundesrepublik Deutschland.“ (BVerfG, Beschl. v. 20.6.1984 – 1 BvR1494/78, BVerfGE 67, 157ff. Rz. 59) Es handelte sich also um eine Art Frühwarnsystem für geplante militärische Aktionen des Warschauer Paktes.
  • Vereinbarkeit mit der Verfassung (1984):  Das BVerfG hielt die „strategische Kontrolle“ 1984 für verfassungskonform und begründete dies unter anderem damit, dass die BND-Beamten in der Regel nicht erfahren, wer die gelesenen Briefe verfasst und die mitgehörten Telefonate geführt hat: „Da Absender und Empfänger von Briefen und Telefonaten nicht registriert werden, die von Maßnahmen der strategischen Ãœberwachung Betroffenen in aller Regel daher anonym bleiben, stellt sich bei objektiver Betrachtungsweise das gelegentliche Lesen der Briefe, das Abhören und Mitschneiden von Ferngesprächen als relativ geringfügige Belastung des Einzelnen und damit als ein Grundrechtseingriff von geringerer Intensität dar.“ (BVerfG, Beschl. v. 20.6.1984 – 1 BvR1494/78, BVerfGE 67, 157ff. Rz. 67)
  • Modernisierter Ansatz im ausgehenden 20. Jahrhundert (BVerfG, Urt.  v. 14.7.1999 – 1 BvR 2226/94, 1 BvR 2420/95, 1 BvR 2437/95, CR 2001, 29):  15 Jahre später war der Kalte Krieg längst vorbei, die „strategische Kontrolle“ des Telefonverkehrs war jedoch nicht abgeschafft, sondern erheblich ausgeweitet worden, der Katalog der Delikte, für deren Bekämpfung des BND zuständig war, reichte jetzt vom internationalen Rauschgifthandel bis zur Geldwäsche.
  • Umfang der BND-Aktivitäten:  Nach den Angaben des Bundesinnenministeríums wurden Ende der 90er-Jahre bereits täglich 70 „Fernmeldevorgänge“ (d.h. ca. 25.000 pro Jahr) durch Suchbegriffe herausgefiltert und mitgehört: „Die Kapazität des Bundesnachrichtendienstes erlaube die Erfassung von täglich etwa 15.000 Fernmeldevorgängen aus insgesamt etwa 8 Millionen täglichen Fernmeldekontakten zwischen Deutschland und dem Ausland. Die materiellen und personellen Ressourcen des Bundesnachrichtendienstes reichten aber nicht aus, das Aufkommen vollständig auszuwerten. In der Gesamtzahl der erfassten Fernmeldevorgänge seien erfahrungsgemäß etwa 700 enthalten, die in den Anwendungsbereich des G 10 fielen. Nur diese würden mit Hilfe der Suchbegriffe selektiert. Etwa 70 von ihnen gelangten in die nähere Prüfung durch Mitarbeiter.“
  • „Ausnahme“ E-Mail-Verkehr:  1999 gab es ausweislich des BVerfG – aus technischen Gründen – noch keine Kontrolle von E-Mails. Die Telefonüberwachung war zudem nur im leitungsgebundenen Fernmeldeverkehr auf Maßnahmen beschränkt, in denen es um die Gefahr eines Abwehrkrieges ging.

Vereinbarkeit mit der Verfassung: Novelle des G10-Gesetzes im Jahr 2001

Die vom BVerfG 1999 geprüfte Verfassungsbeschwerde war in etlichen Punkten erfolgreich. Die Karlsruher Richter verpflichteten den Gesetzgeber, das G 10-Gesetz in etlichen Punkten nachzubessern. Aus einem Bericht der Bundesregierung an den Deutschen Bundestag vom 12.11.2003 („Bericht der Bundesregierung über die Erfahrungen mit dem Gesetz zur
Neuregelung von Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10-Gesetz – G 10)“ v. 12.11.2003, Bundestag-Drucksache 15/2042) ergibt sich, dass die verfassungsrechtliche Notwendigkeit einer Nachbesserung im Rahmen der Novellierung des Gesetzes im Jahr 2001 dazu genutzt wurde, die Befugnisse des BND zur Fernmeldekontrolle beträchtlich auszuweiten:

Seit 2001 unterliegt somit der gesamte – auch leitungsgebundene – Fernmeldeverkehr der Ãœberwachung durch den BND. Der BND darf zudem bis zu 20 % eines Ãœbertragungsweges kontrollieren.

Kurze Zeit später beginnt der BND damit, auch E-Mails mit Suchbegriffen zu durchforsten. Dies stellt heute den Schwerpunkt der „strategischen Kontrolle“ dar. Allein im Jahr 2010 ergab die Suche mehr als 37 Mio. „Treffer“ (ausführlich hierzu Härting, „Bundesregierung bestätigt: BND prüfte 2010 die ‚nachrichtendienstliche Relevanz‘ von 37 Mio. Mails“, CRonline Blog v. 24.5.2012).

Fazit:

  • Ausweitung der Kontrollmaßnahmen:  Ging es 1999 noch um gut 25.000 Telefonate, die der BND kontrollierte zur Feststellung „nachrichtendienstlicher Relevanz“, haben sich die Spionageaktivitäten heute auf den E-Mail-Verkehr verlagert. Millionen Mails werden durch den BND jedes Jahr kontrolliert.
  • Ausweitung der Kontrollbefugnisse:  Nach dem BVerfG-Urteil 1999 hat der Gesetzgeber die Spionagebefugnisse des BND erheblich ausgeweitet – unter anderem auf die gesamte leitungsgebundene Kommunikation.
  • Keine Anonymität:  Konnte das BVerfG 1984 und 1999 noch davon ausgehen, dass der BND-Beamte, der in ein Telefonat hineinhört, die Identität der Gesprächsteilnehmer in der Regel nicht erfahren wird, kann heute von einer Anonymität nicht mehr die Rede sein. Aus E-Mails gehen Absender und Empfänger in aller Regel hervor.
  • Verfassungskonformität der gesetzlichen Grundlagen offen:  Das BVerfG hat das G10-Gesetz in seiner heutigen (ausgeweiteten) Fassung bislang nicht geprüft. Ob die Befugnisse des BND in ihrer jetzigen Fassung verfassungskonform sind, ist zumindest offen.
  • Verfassungskonformität der BND-Praxis zweifelhaft:  Selbst wenn das G10-Gesetz verfassungskonform sein sollte, bestehen erhebliche Zweifel an der Verfassungskonformität der exzessiven BND-Praxis. Das BVerfG hat 1999 betont, dass der BND gehalten ist, von seinen gesetzlichen Befugnissen zurückhaltend Gebrauch zu machen. Angesichts der millionenfachen Kontrolle von Mails kann von einer solchen Zurückhaltung nicht die Rede sein.

Sollte die großzügige Handhabung der Kontrollbefugnisse des BND schon zum jetzigen Zeitpunkt verfassungswidrig sein, würde sich jedwede weitere „Aufrüstung“ des BND mit zusätzlichen Millionen und Mitarbeitern verbieten.

 

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Mehr zum Autor: RA Prof. Niko Härting ist namensgebender Partner von HÄRTING Rechtsanwälte, Berlin. Er ist Mitglied der Schriftleitung Computer und Recht (CR) und ständiger Mitarbeiter vom IT-Rechtsberater (ITRB) und vom IP-Rechtsberater (IPRB). Er hat das Standardwerk zum Internetrecht, 6. Aufl. 2017, verfasst und betreut den Webdesign-Vertrag in Redeker (Hrsg.), Handbuch der IT-Verträge (Loseblatt). Zuletzt erschienen: "Datenschutz-Grundverordnung".

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