Meine Tante Emma hieß in den 70er-Jahren Frau Geldmacher. Sie hatte einen dunklen Laden in einer kleinen Straße mitten in der Kölner Innenstadt. Wir Kinder kauften dort Wassereis, Colafläschchen und Lakritz, später auch Zigaretten.
Tante-Emma-Prinzip
Zu Frau Geldmacher kamen viele ältere Kundinnen. Sie kamen zum Einkaufen, aber auch auf ein Schwätzchen. Und dass viel getratscht und geklatscht wurde, merkte man spätestens an den gesenkten Stimmen und dem Tuschelton, wenn man in die Nähe kam.
Frau Geldmacher kannte ihre Kunden. Sie wusste, wo sie wohnten, und welche Gewohnheiten sie beim Einkaufen hatten. Wenn die Kundin ausnahmsweise einmal keine Eier im Warenkorb hatte, konnte Frau Geldmacher die Kundin an den Eierkauf erinnern.
Es war wohl eine Mischung von Geschäftstüchtigkeit und menschlicher Neugier, die Frau Geldmacher dazu brachten, Informationen über ihre Kunden wie ein Schwamm aufzusaugen und eifrig zu sammeln. Sie konnte sich noch Jahre später an Unfälle ihrer Kunden, an tragische und freudige Ereignisse erinnern. Ein „Recht auf Vergessen“ gab es nicht.
Datensammeln und Transparenz
Von Köln nach Seattle: Ende der 90er-Jahre begann Amazon, das Tante-Emma-Prinzip auf den Online-Handel zu übertragen, indem man begann, systematisch das „Surf“- und Kaufverhalten der Kunden zu erfassen, um daraus Informationen über Interessen und Gewohnheiten zu gewinnen. So gelang es Amazon, dem Kunden „maßgeschneiderte“ Kaufempfehlungen zu unterbreiten.
Das Sammeln von Informationen über den Kunden ist heutzutage im Online-Handel weitverbreitet. Die „Datensammelwut“ der Unternehmen wird immer wieder kritisiert, und es werden Wege gesucht zu mehr Transparenz und zu einer Kontrolle der Internetnutzer über „ihre Daten“. In den USA gibt es seit Jahren eine rege Debatte um „Do Not Track“-Verfahren, mit denen der Nutzer die Erfassung von Nutzungsdaten ausschließen können soll. In Europa wird seit Anfang 2012 das Datenschutzpaket der Europäischen Kommission diskutiert, deren erklärte Ziele die Eindämmung des Datensammelns und eine verbesserte Transparenz sind.
Dass sich allerdings der Händler über seine Kunden informiert und Daten über Kaufgewohnheiten und –interessen sammelt, ist weder unanständig noch verwerflich. Hinter der „Datensammelwut“, die Online-Händlern vielfach vorgeworfen wird, steckt vielfach ein legitimes Interesse an einer Kundenbindung und –gewinnung. Ein Interesse, das durch das (Verfassung-)Recht in gleicher Weise geschützt wird wie Datenschutzrechte der Bürger.
Kein Eigentum an Daten
Ein weit verbreiteter, sich durch alle politischen Lager und Gesellschaftsschichten durchziehender Fehlglaube ist die Annahme: „Meine Daten gehören mir“. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Volkszählung-Entscheidung im Jahre 1983 betont, dass es kein Recht des Einzelnen an „seinen Daten“ gebe „im Sinne einer absoluten, uneinschränkbaren Herrschaft“. Der Einzelne ist eine sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfaltende, auf Kommunikation angewiesene Persönlichkeit. Informationen, auch soweit sie personenbezogen sind, stellen daher (auch) ein „Abbild sozialer Realität“ dar, das nicht ausschließlich dem Betroffenen zugeordnet werden kann. Jegliche Anlehnung an eigentumsrechtliche Befugnisse ist dementsprechend verfehlt (BVerfG, Urt. 15.12.1983 – 1 BvR 209/83, 1 BvR 269/83, 1 BvR 362/83, 1 BvR 420/83, 1 BvR 440/83, 1 BvR 484/83, BVerfGE 65, 1 ff. zu C.II.1.b) = Rz. 150).
Abbilder sozialer Realität
E-Mailadressen oder Telefonnummern sind ein gutes Beispiel für die „soziale Realität“, die das BVerfG meint. Sie dienen der Kommunikation und werden aus diesem Grund ganz selbstverständlich von jedem gespeichert, der mit der betreffenden Person kommunizieren möchte. Wenn es allein der Entscheidung des Adressinhabers überlassen wäre, wer wann und wie lange die E-Mailadresse oder Telefonnummer speichern darf, würde dies die soziale Interaktion und Kommunikation erheblich behindern. Gäbe es ein eigentumsähnliches Recht an Postanschriften und Telefonnummern, hätte nie ein Telefonbuch gedruckt werden dürfen.
Daten und Informationen haben (auch) einen sozialen Bezug. Werden Daten monopolisiert und dem ausschließlichen Bestimmungsrecht einer einzelnen Person untergeordnet, droht die jederzeitige „Privatisierung von Informationen“. Daten, die wichtig sind für die soziale Interaktion, die Kommunikation und den gesellschaftlichen Diskurs, könnten durch ein Bestimmungsrecht einer einzelnen Person eigentumsähnlich privatisiert werden. Dies wäre in höchstem Maße gemeinschafts- und gesellschaftsfeindlich.
Personenbezug und Sozialbezug von Informationen
Wann Erna Müller welches Dosenobst bei Tante Emma eingekauft hat, ist eine Information, die weder Frau Müller noch Tante Emma gehört. Und mir gehören zwar die Bücher, die ich in den letzten Jahren bei Amazon gekauft habe, nicht jedoch die Informationen über meinen Warenkorb.
Informationen können eine scharfe Waffe sein und Persönlichkeitsrechte gefährden. Zugleich haben Informationen jedoch auch einen Gemeinschaftsbezug. Sie sind der lebensnotwendige Rohstoff sozialer Interaktion. Nur wenn die Balance zwischen der Personenbezogenheit und dem Sozialbezug von Informationen stimmt, wird man erfolgreich sein auf der Suche nach zukunftstauglichen Regelungsmodellen für den Datenschutz.