Autoren: Jochen Schneider und Niko Härting
In der Diskussion um die EU-Datenschutzreform hat das europäische Grundecht auf Datenschutz, das in Art. 8 „Schutz personenbezogener Daten“ der Charta der Grundreche der EU (GrCh) verankert ist, eine zentrale Bedeutung. Das EuGH-Urteil zur Vorratsdatenspeicherung (EuGH, Urt. v. 8.4.2014 – C-293/12) zeigt jedoch, dass es sich bei diesem Grundrecht um nicht viel mehr als einen Programmsatz handelt. Ohne einen Rückbezug zu dem Grundrecht auf Achtung des Privatsphäre (Art. 7 „Achtung des Privat- und Familienlebens“ GrCh) hätte der EuGH nicht begründen können, dass die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung (VDS-Richtlinie) dem Gebot der Verhältnismäßigkeit nicht standhält.
Prüfung der Verhältnismäßigkeit
Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit setzt voraus, dass man das jeweilige Ziel ins Auge nimmt, das eine staatliche Maßnahme verfolgt. Für die Vorratsdatenspeicherung bedeutet dies, dass der Grundrechtseingriff ins Verhältnis gesetzt werden muss zu den Sicherheitszwecken, die die VDS-Richtlinie verfolgt:
Je größer das Mehr an Sicherheit ist, das durch die VDS-Richtlinie erreicht wird, desto intensiver dürfen die Eingriffe sein, die die VDS-Richtlinie vornimmt.
Bezugspunkt für Eingriffsintensität?
Für eine Abstufung der Eingriffsintensität sind „Daten“ ein unzulänglicher Bezugspunkt. Daten sind erst recht für eine solche Abstufung – und die noch vorzunehmende Abwägung mit Sicherheitsinteresse, Privatleben sowie Meinungsäußerungsfreiheit andererseits – ungeeignet, wenn ihre Verarbeitung pauschal (wie in der Datenschutz-Richtlinie 95/46/EG und im BDSG) verboten wird. Daher überrascht es nicht, dass der EuGH das Grundrecht auf Datenschutz in Art. 8 GrCh nur am Rande zusätzlich erwähnt und stattdessen primär die Intensität der Eingriffe in Persönlichkeitsrechte (Art. 7 GrCh) betont hat, aus der sich der Grundrechtseingriff ableiten lässt.
Ansatz des EuGH
In Rz. 29 des Urteils geht der EuGH auf Art. 7 GrCh ein und sagt unmissverständlich, dass die vorgesehene Vorratsspeicherung zu dem Zweck, sie ggf. den zuständigen nationalen Behörden zugänglich zu machen, „unmittelbar und speziell das Privatleben und damit die durch Art. 7 der Charta garantierten Rechte“ betrifft (EuGH, Urt. v. 8.4.2014 – C-293/12, Rz. 29). Das heißt, dass der EuGH von der Reihenfolge her:
- zunächst das Privatleben als Grundrecht prüft, in das ggf. eingegriffen wird.
- In der gleichen Rz. 29 erfolgt dann der Hinweis, dass die Vorratsdatenspeicherung der Daten „zudem“ unter Art. 8 GrCh fällt.
Europarechtsdogmatische Konsequenz
Das bedeutet, dass jedenfalls gemäß der Diktion des EuGH Art. 7 GrCh wesentlich stärker wirkt, als Art. 8 GrCh, der nur „zudem“ in Betracht kommt. Das heißt zugleich, dass genau diese Schwäche besteht:
Eingriffe in das Grundrecht auf Datenschutz sind einer Prüfung der Eingriffsintensität nicht zugänglich!
Denn diese Prüfung nur „in sich selbst“ erfolgen könnte, was nicht wirklich (der EuGH spricht in Rz. 39 den „Wesensgehalt“ an) weiterhilft:
- Entweder bedarf es also eines höherrangigen Gutes, das dementsprechend in Art. 8 etwa im Hinblick auf Abstufungen hinein zu lesen bzw. interpretieren wäre (wie etwa die Privatsphäre und die Persönlichkeitsrechte).
- Oder es greifen die anderen Grundrechte (hier das Recht auf Privatleben) unmittelbar und stärker, werden aber im Lichte des Art. 8 interpretiert (EuGH, Urt. v. 8.4.2014 – C-293/12, Rz. 53, zum Verhältnis zwischen Privatleben, Art. 7 GrCh und Datenschutz, Art. 8 GrCh ausführlicher unten).
Auch wäre denkbar, noch eine Abwägung im Verhältnis zum Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 11 GrCh) vorzunehmen. Der EuGH spricht diese Möglichkeit an, verfolgt sie aber nicht weiter (Rz. 25 u. 70).
„Gefühl einer ständigen Ãœberwachung“
Vor diesem Hintergrund ist zu sehen, dass in Rz. 37 die Gefahr bzw. das „Gefühl einer ständigen Ãœberwachung“, wie dies bereits der Generalanwalt (Schlussanträge des Generalanwalts Pedro Cruz Villalón v. 12.12.2013) als einen zu vermeidenden Umstand dargestellt hat, vom EuGH aufgegriffen wird. Rz. 37 spricht davon, dass mit der VDS-Richtlinie ein Eingriff in die in Art. 7 GrCh und Art. 8 GrCh verankerten Grundrechte erfolgt, wie auch der Generalanwalt (Schlussanträge des Generalanwalts Pedro Cruz Villalón v. 12.12.2013, Rz. 77 u. 80) ausgeführt hatte. Dabei betont der EuGH das große Ausmaß und auch das Gewicht, bestätigt also den Generalanwalt.
Verhältnis zwischen Privatsphäre und Datenschutz
Im Zusammenhang mit Erforderlichkeit (Rz. 51 ff.) und Verhältnismäßigkeit (Rz. 52 ff.) handelt der EuGH dementsprechend vor allem Art. 7 GrCh ab und sieht das Verhältnis zu Art. 8 GrCh wie folgt:
„Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Schutz personenbezogener Daten, zu dem Art. 8 Abs. 1 der Charta ausdrücklich verpflichtet, für das in ihrem Art. 7 verankerte Recht auf Achtung des Privatlebens von besonderer Bedeutung ist.“
(EuGH, Urt. v. 8.4.2014 – C-293/12, Rz. 53).
Das muss man so interpretieren, wie der EuGH dies auch in Rz. 54 mit Erwähnung des EGMR tut, dass das höherrangige Recht im Bereich des Datenschutzes der Art. 7 GrCh ist, auf den die Interpretation des Art. 8 GrCh hin ausgerichtet werden muss.
Fazit: Kein Datenschutz ohne Persönlichkeitsrechte
Die Entscheidung des EuGH zeigt, dass es verfehlt ist, Daten als Schutzgut zu betrachten und zu behandeln. Die Qualität und Intensität eines Eingriffs „in den Datenschutz“ lässt sich nicht sinnvoll bestimmen, ohne die Persönlichkeitsrechte in Betracht zu ziehen, die mit den Methoden des Datenschutzes geschützt werden sollen. Nicht die Datenspeicherung verletzt die Rechte der EU-Bürger, sondern die Vorhaltung gewaltiger Mengen an Informationen, die dem Staat jederzeit tiefe Einblicke in das Privatleben seiner Bürger ermöglichen.