Am 30.6.2015 fand in Brüssel ein Trilog-Treffen von Europäischer Kommission, Europäischem Parlament und dem Rat der Europäischen Union statt. Die drei Organe kamen bei diesem Treffen zu einer Einigung zum umstrittenen Thema der Netzneutralität, das künftig im Rahmen der Verordnung für einen einheitlichen Telekommunikationsmarkt reguliert werden soll. Mit dem Inkrafttreten sei im Jahr 2016 zu rechnen (EU-Kommission, „Kommission begrüßt Vereinbarung zur Abschaffung der Roaminggebühren und zur Sicherstellung des offenen Internets“, Pressemitteilung v. 30.6.2015).
Bisher ist es den Mitgliedsstaaten überlassen, ob sie Regelungen in diesem Bereich erlassen. In Deutschland unterfällt das Thema derzeit keiner sektorspezifischen telekommunikationsrechtlichen Regulierung, sondern ist allein am Maßstab des (allgemeinen) Kartellrechts zu beurteilen. In den Niederlanden gibt es aber z.B. spezifische Regelungen zur Netzneutralität.
1. Die grundsätzliche Debatte
Netzneutralität bedeutet, dass alle Datenpakete unabhängig von ihrem Inhalt, ihrem Verwendungszweck, ihrer Herkunft oder ihrem Empfänger gleichermaßen nach Maßgabe des sog. Best-Effort-Prinzips durch die Mobilfunknetze bzw. Festnetze geleitet werden. Die Nutzer datenintensiver Dienste genießen demnach keine Qualitätsgarantie. Nach dem Grundsatz der Netzneutralität ist es Anbietern von Internetzugangsdiensten (Access Providern) grundsätzlich versagt, von Diensteanbietern (Content Providern) ein Entgelt für die Verbindung mit den Nutzern zu verlangen oder den Diensteanbietern eine priorisierte Datenübertragung von Inhalten und Anwendungen anzubieten.
- Contra Netzneutralität
Aufgrund der stetig ansteigenden Datennutzung sowie des Zuwachses an datenintensiven Diensten wie Video-Streaming, Online-Gaming und Cloud-Computing besteht die Gefahr, dass Datenübertragungskapazitäten bei Netzüberlastung und in Stau-Situationen ineffizient genutzt werden. Dem Versender einer E-Mail ist es im Falle von überlasteten Netzen beispielsweise gleichgültig, ob der Inhalt den Empfänger mit einer kurzen Verzögerung erreicht. Ein Datenstau bedeutet für den Nutzer eines Video-Dienstes hingegen eine Unterbrechung bzw. Pufferung des Bewegtbildes und damit eine Einschränkung der Qualität des Dienstes.
Eine grenzenlose Netzneutralität führt deshalb unter Umständen zu einer ineffizienten Allokation von Datenübertragungskapazitäten und kann im Extremfall innovative Dienste, die auf eine Mindestqualität der Datenübertragung angewiesen sind, ausbremsen. Es besteht deshalb ein erhebliches Interesse an einer Aufweichung des Grundsatzes der Netzneutralität seitens der Diensteanbieter, die neue innovative Dienste anbieten möchten, und seitens der Access Provider, die großvolumige Investitionen in ihre Festnetze und/oder Mobilfunknetze durch das Anbieten des privilegierten Datentransports bzw. einer zugesicherten Mindestqualität (sog. Quality of Service; QoS) amortisieren möchten. Seitens der Endnutzer besteht ebenso ein Interesse, da diese letztendlich in den Genuss der innovativen Dienste kommen.
- Pro Netzneutralität
Gegen einen Bruch mit der Netzneutralität wird hingegen vorgebracht, dass dies zulasten des übrigen Internetverkehrs gehe, und dass Start-Up-Unternehmen in ihrer Innovationskraft gebremst werden, da diese in der Gründungsphase nicht die erforderlichen Mittel aufbringen könnten, um privilegierten Netzzugang bzw. QoS einzukaufen.
2. Die Kompromisslösung
Die EU-Organe haben sich mit den vorgenannten, kursorisch aufgezeigten widerstreitenden Interessen auseinandergesetzt und versucht, den Konflikt über einen Kompromiss aufzulösen. Insofern soll mit dem Inkrafttreten der neuen Verordnung eine EU-weit einheitliche Regelung zur Netzneutralität geschaffen werden, die unmittelbar in den Mitgliedstaaten gelten würde (aktueller Stand im CRonline Gesetzgebungsreport: „Reformpaket für den TK-Binnenmarkt“) .
Auch wenn der Volltext der aktuellen Entwurfsfassung der Verordnung noch nicht veröffentlicht ist, lässt sich aus einem Fact Sheet der EU-Kommission,„Roaming charges and open Internet: questions and answers“ v. 30.6.2015, der wesentliche Inhalt der avisierten Regelungen entnehmen:
- Grundsatz:
Die Netzneutralität soll in Form eines Grundsatzes vorgegeben werden. Jeglicher Datenverkehr soll durch die Access Provider nach den gleichen Grundsätzen behandelt werden, ohne Rücksicht auf den Inhalt oder den Empfänger. Die Priorisierung von Datenverkehren gegen Bezahlung soll hingegen – genauso wie das Blockieren oder gezielte Verlangsamen bestimmter Datenkategorien – untersagt sein.
- Ausnahme für „Spezialdienste“:
Dennoch soll es einige Ausnahmen von den vorgenannten Grundsätzen geben. Access Provider werden insofern wohl künftig die Möglichkeit erhalten, Vereinbarungen über sog. „Spezialdienste“ (specialised services) zu schließen, um diesen eine (höhere) Mindestqualität für die Datenübertragung zu gewährleisten.
Es ist noch unklar, welche Dienste unter den Begriff der Spezialdienste fallen werden. Als Beispiele nennt das Fact Sheet der EU-Kommission etwa IPTV, Videokonferenzen, Telemedizin oder vernetztes Fahren genannt. Daraus lässt sich schließen, dass besonders datenintensive Dienste gemeint sein sollen oder solche, die auf eine bestimmte Mindestqualität (z.B. Latenzzeiten) bei der Datenübertragung angewiesen sind.
- Rückausnahme:
Die Ausnahmeregelung wird durch eine Rückausnahme flankiert, denn die Einräumung von Netzkapazitäten für Spezialdienste darf nicht dazu führen, dass der übrige Internetverkehr eine von den Regulierungsbehörden festzulegende Mindestqualität unterschreitet. Spezialdienste können demnach nur dann angeboten werden, wenn ausreichende Kapazitäten für die übrigen Dienste freigehalten werden.
3. Vergleich zum Ansatz in den USA
In den USA hat die Federal Communications Commission (FCC) mit dem Erlass der Open Internet Rules, die am 12.6.2015 in Kraft getreten sind, übrigens einen ähnlichen Ansatz umgesetzt. Danach gilt ebenfalls der Grundsatz der Netzneutralität, wobei Ausnahmen (sog. pay-for-priority) im Einzelfall zulässig sind.
Die Ausnahme scheint in den USA enger zu sein als die von den EU-Organen vorgesehene Regelung. Denn der Grundsatz der Netzneutralität darf nur dann unterlaufen werden, wenn dies der Offenheit des Internets nicht entgegensteht und der jeweilige „Spezialdienst“ einen Zweck erfüllt, der dem öffentlichen Interesse dient:
Eine derartige Ausnahme vom Grundsatz der Netzneutralität darf demnach wohl nur nach vorheriger behördlicher Genehmigung erfolgen.
In der EU scheint indes keine Genehmigungspflicht für „Spezialdienste“ vorgesehen zu sein, so dass die Kontrolle durch die Regulierungsbehörden voraussichtlich im Nachhinein (ex post) und nicht im Vorhinein (ex ante) erfolgen wird.
4. Ausblick
Sofern der hier dargestellte Kompromiss, der weitergehende Ausnahmen vom Grundsatz der Netzneutralität als entsprechende US-Regelungen vorsieht, in der finalen Fassung der Verordnung für einen einheitlichen Telekommunikationsmarkt umgesetzt werden sollte, würde sich eine Vielzahl an Folgefragen ergeben:
- Insbesondere die Definition der nach der Kompromisslösung privilegierten „Spezialdienste“ dürfte einen Dreh- und Angelpunkt im Gesetzgebungsprozess darstellen, da auf Basis des derzeitigen Standes nicht klar abzusehen ist, welche Dienste vom Einkauf von QoS profitieren sollen.
- Es ist zum anderen noch nicht klar, wie vertragliche Vereinbarungen zwischen Diensteanbietern und Access Providern ausgestaltet werden müssen, um dem neuen Netzneutralitätsregime sowie ggf. auch kartellrechtlichen Maßstäben zu genügen.
- Ebenso wird sich zeigen, welche Überwachungs- und Eingriffsmechanismen die jeweiligen Mitgliedstaaten implementieren werden.
Weiterführend zum Thema
- Werkmeister/Hermstruewer, Ausnahmen vom Grundsatz der Netzneutralität – Wer darf auf die Überholspur im Internet?, CR 2015, Heft 9 (erscheint demnächst)
- Werkmeister/Post/Dietrich, Net Neutrality 2.0 – The New US Approach and the Evolving EU Single Market Regulation, CRi 2015, 71
- Werkmeister/Post/Becker, The FCC’s new approach for net neutrality in the US vs. and Member State Regulation, CRi 2014, 108