Die „Brüderlichkeit“ war eine der Losungen der Französischen Revolution (kritisch zu ihrer staatlichen Durchsetzungsfähigkeit De Weck, „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – wirklich?“, Zeit Online v. 17.2.1989). Martin Schulz, möglicher Kanzlerkandidat der SPD, hält die „Brüderlichkeit“ im 21. Jahrhundert offenkundig für überholt. Er setzt stattdessen auf Datenschutz, auf die Selbstbestimmung der Eliten und das Recht der älteren Generation auf „digitale Abstinenz“.
„Charta der digitalen Grundrechte“
Martin Schulz will hoch hinaus. Seine Agenda als Kanzlerkandidat findet sich in einem Gastbeitrag mit der Ãœberschrift „Freiheit Gleichheit Datenschutz“, den „Die Zeit“ vor einem Jahr veröffentlichte (Schulz, „Freiheit Gleichheit Datenschutz“, Zeit Online v. 27.11.2015). In diesem Beitrag fordert Schulz eine europäische „Charta der digitalen Grundrechte“. Ziel einer solchen Charta sei es, zu
„verhindern, dass technisches Neuland nach Wildwestmanier aufgeteilt wird und somit nur einige wenige Revolutionsgewinner als neue Oligarchen ihre Milliardengewinne einstreichen.“
(Schulz, „Freiheit Gleichheit Datenschutz“, Zeit Online v. 27.11.2015)
Alle Macht geht vom Europäischen Parlament aus
Als Parlamentspräsident ist Martin Schulz überzeugt davon, dass nur das Europäische Parlament die europäischen Bürger umfassend schützen kann. Die Charta soll in Brüssel und Straßburg „in einem geregelten Verfahren“ ausgearbeitet und verabschiedet werden. Schulz will die Bürger – „von Schulklassen über Universitäten, Medien und Onlineforen, Religionsgemeinschaften und Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen bis hin zu kompletten Wirtschaftsbranchen“ – anhören, keineswegs aber entscheiden lassen.
Grundrechte, die den Staat aufrüsten
Im Weltbild des Martin Schulz schützen die Grundrechte nicht mehr den Bürger gegen den Staat. Der Staat soll vielmehr aufgerüstet werden, um den „neuen Oligarchen“ die Stirn zu bieten. Diese „Oligarchen“, die in „Wildwestmanier“ agieren, sind Unternehmen aus dem Silicon Valley. Alle Gefahr kommt aus dem Westen.
Die Gefahren staatlicher Ãœberwachung sieht Martin Schulz dagegen in einem milden Licht:
„Interessanterweise geht es bei vielen dieser Fragen weniger um den individuellen Schutz vor staatlichen Übergriffen, sondern hauptsächlich darum, die Persönlichkeitsrechte jedes Einzelnen vor privaten Megakonzernen zu schützen.“
(Schulz, „Freiheit Gleichheit Datenschutz“, Zeit Online v. 27.11.2015)
Schulz sorgt sich weniger um staatliche Ãœbergriffe als um „eine effektive Strafverfolgung im Netz“. Grundrechte sind nicht mehr das Instrument des Bürgers gegen den Staat, sie sind für den Staat vielmehr Mittel zum Zweck. Im Namen der Grundrechte europäischer Bürger soll der Staat im Kampf gegen amerikanische „Megakonzerne“ und unerwünschte „Hate Speech“ aufgerüstet werden (zu Hate Speech siehe Specht/Eickhoff, „Ein reformiertes Haftungskonzept für rechtswidrige Äußerungen auf Bewertungsportalen?“, CR 2016, 740).
Die Meinungsfreiheit wird zur Gefahr
Die Netzkommunikation ist die Lebensader der Informations- und Meinungsfreiheit (dazu Albrecht/Janson, „Datenschutz und Meinungsfreiheit nach der Datenschutz-Grundverordnung“, CR 2016, 500). Dies weiß auch Martin Schulz, der jedoch die Meinungsfreiheit mehr fürchtet als achtet und vor den Gefahren einer „entgrenzten“ Kommunikation warnt:
„Das erlöst uns allerdings nicht von der Frage, wie wir das Verhältnis von Meinungsfreiheit und Datenschutz gewichten wollen. Dabei ist besonders brisant, dass das Netz ein entgrenzter Raum ist, der uns mit kultureller Heterogenität konfrontiert.“
(Schulz, „Freiheit Gleichheit Datenschutz“, Zeit Online v. 27.11.2015)
„Kulturelle Heterogenität“ und der Wertekanon einer intellektuellen Elite
Im Weltbild des Martin Schulz ist „kulturelle Heterogenität“ keine positive Zukunftsvision, sondern eine Gefahr. Denn Heterogenität fordert Toleranz und das Aushalten von Meinungen, die vom eigenen Wertekanon meilenweit entfernt liegen. Und der Wertekanon des Martin Schulz ist der Wertekanon einer intellektuellen großstädtischen Elite, die sich vor dem „Hass“ des einfachen Bürgers ebenso fürchtet wie vor dem Elan und der Begeisterung amerikanischer Softwareentwickler.
Die „Souveränität“ intellektueller Besserverdiener
Indem Martin Schulz zum Kampf gegen „neue Oligarchen“ bläst und dabei auf Datenschutz und Selbstbestimmung setzt, entfernt er sich weit vom Alltag der Bevölkerungsgruppen, für die die Losung der „Brüderlichkeit“ steht. Junge Arbeitslose in Spanien, Rentner in Osteuropa und Minijobber im Ruhrgebiet haben andere Sorgen als städtische Eliten, die sich um „Datensouveränität“, „effektive Strafverfolgung“ im Netz und um ein Grundrecht auf „digitale Abstinenz“ sorgen. Sie können sich „Selbstbestimmung“ schlechterdings nicht leisten.
Datenschutz darf nicht dazu führen, dass der Staat gestärkt wird, um die „Souveränität“ besserverdienender Bürger zu bewahren. Man darf hoffen, dass die SPD dies rechtzeitig erkennt.