Heute hat der Bundestag in zweiter und dritter Lesung mit Stimmen der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD die Novelle zum Bundesarchivgesetz verabschiedet (BT-Drs. 18/10813). „Bundesarchiv“ klingt dem Namen nach erst einmal nur mäßig spannend, viel mehr nach einem riesigen Gewölbe mit vielen deckenhohen Regalen, hinter 10 schweren, verschlossenen Türen, dahinter manch verbliebener HistorikerInnen und unzählige staubige Akten, von denen einige vielleicht sogar tatsächlich nur von äußerst spezifischem Interesse sind. Doch gerade im Hinblick auf letztgenanntem Aspekt täuscht der Name: Es handelt sich hierbei um das kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik und einen – wenn auch etwas verspäteten – umfassenden und kontinuierlichen Rechenschaftsbericht staatlichen Handelns auf Bundesebene. Denn auf Basis der dort archivierten Originalakten werden JournalistInnen, WissenschaftlerInnen und Privatpersonen in die Lage versetzt, historische und insbesondere auch hochpolitische Vorgänge, angesiedelt auf den höchsten Ebenen der Staatsverwaltung im Detail nachzuvollziehen und damit einer öffentlichen Kontrolle zu unterwerfen. Dies zumindest im Nachhinein und jedenfalls gerade noch.
Das Bundesarchiv als kollektives Gedächtnis der Bundesrepublik
Bislang füllt das Bundesarchiv diese Funktion als kollektives Gedächtnis aus, indem der Bundesverwaltung entstammende Akten 30 Jahre nach ihrer Entstehung grundsätzlich von der Verwaltung dem Bundesarchiv übergeben werden müssen. Dieses entscheidet dann, ob die Akten archiviert werden sollen und pflegt sie gegebenenfalls in das Archiv ein, wo sie durch die interessierte Öffentlichkeit eingesehen werden können.
Der vorrangige Zweck der Novelle besteht laut der Gesetzesbegründung darin, die Archivierungspraxis eingedenk der Bedürfnisse der Informationsgesellschaft an die digitale Infrastruktur zwecks Erhaltung der Arbeitsfähigkeit des Bundesarchivs in Zeiten des digitalen Wandels anzupassen und auch die öffentliche Zugänglichkeit des Archivs entsprechend zu erleichtern. Dies ist notwendig, stammt die bisherige gesetzliche Regelung doch aus dem Jahre 1988. Sinnvollerweise soll das Gesetz künftig also auch auf elektronische Akten Anwendung finden.
Problematisch ist jedoch, dass das Bundesarchiv in Bezug auf die Akten, die ihm künftig überhaupt noch in elektronischer oder anderer Form übergeben werden, Einbußen wird hinnehmen müssen. Denn unter Gesichtspunkten der Transparenz staatlichen Handelns und der Informationsfreiheit bedeutet das Gesetz in seiner nun durch den Bundestag verabschiedeten Fassung soweit ersichtlich einen Rückschritt. So ändert sich die Regelungspraxis zu den Vorgängen der Staatsverwaltung, die künftig archiviert werden können, maßgeblich und führt dazu, dass die Zahl der spannenden Akten künftig weitaus geringer ausfallen dürfte. Der Deutsche Historikerverband (VHD) warnt in Anbetracht des Gesetzesentwurfs nachvollziehbar pathetisch vor „gravierenden Überlieferungslücken im historischen Gedächtnis der Nation“.
Das Archiv droht auszubluten
Trotz der grundsätzlich weiterhin geltenden Übergabepflicht spätestens nach 30 Jahren – ausgestaltet allerdings lediglich als „Sollens“-Vorschrift in § 5 Abs. 1 Satz 2 BArchG-E – und sogar einer teilweisen Verkürzung der Sperrfristen (bspw. die mögliche Verkürzung der Sperrfrist von 60 Jahren auf höchstens 30 Jahre bei Archivgut von besonderen Geheimhaltungsinteressen; zu einer allgemeinen Verkürzung der Sperrfrist vor Einsichtnahme von 30 auf 10 Jahre konnte man sich indes nicht durchringen), droht das Archiv angesichts einer wesentlichen Ausnahme hinsichtlich der Übergabepflichten von Nachrichtendiensten bezogen auf die Archivierung politischer Vorgänge von höchster Brisanz regelrecht auszubluten. Und das in Zeiten, in denen angesichts jüngster Skandale wie dem NSU-Terror und den teilweise mit dem Schreddern wichtiger Akten seitens des Verfassungsschutzes verbundenen NSU-Aufarbeitungsdefiziten, den Diensten zusätzlich zur eher schwach ausgeprägten parlamentarischen Kontrolle eine zusätzliche, zumindest nachgelagerte öffentliche Kontrolle ihres Handelns doch nicht eben schlecht zu Gesicht stünde.
Kosmetische Verbesserungen auf den letzten Metern
Die Nachrichtendienste sind künftig nur dann gehalten, dem Archiv Akten zu übergeben,  „wenn sie deren Verfügungsgewalt unterliegen und zwingende Gründe des nachrichtendienstlichen Quellen- und Methodenschutzes sowie der Schutz der Identität der bei ihnen beschäftigten Personen einer Abgabe nicht entgegen stehen“ (§ 6 Abs. 1 Satz 2 BArchG-E). Der ursprüngliche Entwurf aus September 2016, der noch von „überwiegenden Gründen des Nachrichtenzugangs oder schutzwürdigen Interessen der bei ihnen beschäftigten Personen“ sprach, wurde infolge der Beratungen des Ausschusses für Kultur und Medien durch die Beschlussempfehlung vom 11. Januar 2017 noch etwas konkreter gefasst. Allerdings dürfte zumindest die Begrifflichkeit des nachrichtendienstlichen Quellen- und Methodenschutzes weiterhin Tür und Tor für die Konstruktion aller möglichen Gründe öffnen. So dürfte jede Information über eine konkrete nachrichtendienstliche Ermittlung Rückschlüsse auf eine dieser zugrundeliegenden Methode zulassen (anderenfalls hieße das wohl, dass die Dienste nicht methodisch vorgingen). Hier scheint demnach nicht viel gewonnen. Auf Drängen der SPD-Fraktion war der ursprüngliche Passus, der bereits „überwiegende Gründe“ zum Ausschluss der Abgabepflicht genügen ließ, durch den erwähnten Änderungsantrag des Ausschusses für Kultur und Medien noch einmal strenger gefasst worden. Man mag bezweifeln, dass es sich hierbei in Anbetracht des generellen Problems der aus der Ausnahmeregelung resultierenden Anwendungspraxis um mehr als eine kaum praktisch relevante, kosmetische Korrektur handelt. Im Ergebnis wurde hier dem grundlegenden Kontrolldefizit, das aus der Nichtübergabe der Akten resultiert, als vermeintliches Korrektiv ein weiteres Kontrolldefizit hinzugefügt. Wer wird im Nachhinein schon justiziabel überprüfen können, ob es sich gegebenenfalls Jahre zuvor um überwiegende oder zwingende Gründe handelte – zumal, wenn die Akten im Archiv nicht vorliegen und in der Vergangenheit bei den Nachrichtendiensten nicht unbedingt gut und sicher aufgehoben waren?
Erschwerung öffentlicher Kontrolle im grundrechtssensiblen Bereich
Die Dienste entscheiden künftig also nahezu nach eigenem Gutdünken, welche Akten sie dem Bundesarchiv vorlegen und welche sie unter Verschluss halten wollen. Dies führt in einem äußerst grundrechtssensiblen Bereich dazu, dass staatliches Eingriffshandeln, welches angesichts von nachvollziehbaren Geheimhaltungsinteressen der öffentlichen Sicherheit bereits in der akuten Situation nicht sonderlich effektiv zu kontrollieren ist, auch keiner nachträglichen (und wenn auch nur politischen) Bewertung mehr unterzogen werden kann. Das hemmt die Präventionswirkung in Bezug auf anstehende Maßnahmen und gegebenfalls die abschreckende Wirkung hinsichtlich folgender Maßnahmen und eine nachträgliche Revision und Sanktionierung fragwürdigen Handelns oder auch nur die historische Rehabilitation Betroffener scheint insgesamt nicht möglich. Aus guten Gründen wird es deshalb auf Länderebene in aller Regel so gehandhabt, dass entsprechende Akten den Landesarchiven angeboten werden müssen. Diese entscheiden dann unabhängig über die Archivierung anhand der inhaltlichen Relevanz und berücksichtigen eventuelle Geheimhaltungsinteressen, was, verglichen mit einer selbständigen Beurteilung durch die handelnden Stellen selbst, oftmals zu nahezu entgegengesetzten Ergebnissen führend dürfte.
Bundesarchiv im Zwiespalt – „Homestory“ der Nachrichtendienste?
Im Bundesarchiv selbst verweist man indes darauf, dass die nun in dem verabschiedeten Gesetz enthaltene Regelung zum einen den Bedürfnissen von Verwaltungspraktikabilität entspreche. Denn auf Bundesebene existiere eine solche Menge an Akten, die das Bundesarchiv unmöglich selbst umfassend sichten könne. Zum anderen sei es aber durchaus so, dass auch das Bundesarchiv in der Lage und gesetzlich verpflichtet sei, Akten, auch und gerade wenn sie strengsten Geheimhaltungsanforderungen unterlägen, entsprechend sensibel zu verwalten. Der Lösungsansatz, die Sichtung aber gerade einzelnen (und vermutlich leitenden) Entscheidungsträgern innerhalb der Verwaltungseinheiten zu überlassen, die eigentlich durch die Zurverfügungstellung der Akten zum Zwecke der Archivierung und Einsichtnahme auch öffentlich Rechenschaft über ihr Handeln ablegen sollten, bringt meines Erachtens im Hinblick auf das Ziel von Verwaltungspraktikabilität zumindest erhebliche Opportunitätskosten in den Bereichen Transparenz und Informationsfreiheit mit sich. Die Dienste verfügen damit künftig nahezu unbeschränkt selbst darüber, wie sie sich im Rahmen ihres öffentlichen Zeitzeugnisses darstellen und das kann mit dem, was hinter verschlossenen Türen stattgefunden hat, wie wiederum die jüngsten Skandale zeigen, im Einzelfall auch einmal weniger zu tun haben.
Bundesarchiv als Hüterin des Faktischen
Und auch wenn man natürlich keinen bösen Willen zur „Schönung“ der Realität unterstellen mag, wäre es doch in jedem Fall wünschenswert, wenn weiterhin auf die Expertise und Ressourcen von unabhängigen ArchivarInnen und HistorikerInnen zurückgegriffen würde, um über die historische und politische Wertigkeit dokumentierten Verwaltungshandelns zu entscheiden und somit Zeitgeschichtliches effektiv zu bewahren. Sodann muss es Menschen geben, die gerade im Spannungsfeld von „Freiheit und Sicherheit“ in der historischen Rückschau auf Basis dieser Materialien politisches Handeln außerhalb des wiederholt situativ vorherrschenden Aktionismus und parteipolitischer Polemik mit kühlem Kopf und einem Anspruch von Wahrhaftigkeit auf Ursache und Wirkung hin untersuchen. Die Demokratie lebt vom Blick zurück. Und je weniger Wert den Tatsachen im politischen und gesellschaftlichen Diskurs des sog. Zeitalters des Postfaktischen möglicherweise auch beigemessen werden wird, desto wertvoller wird doch ein Archiv von Wahrheiten im Blick zurück irgendwann sein.