Kann ich jederzeit verlangen, dass ein anderer die Verarbeitung „meiner“ Daten beendet und die Daten löscht? Würde man hierzu eine Straßenumfrage machen, wäre das Ergebnis wahrscheinlich nicht ganz eindeutig. Schuld daran ist die sich seit dem Volkszählungsurteil des BVerfG in der Öffentlichkeit hartnäckig haltende Fehlvorstellung, an personenbezogenen Daten bestehe ein eigentumsähnliches Recht („Meine Daten gehören mir!“).
Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist kein absolutes Recht
Dabei ist für Juristen selbstverständlich, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung kein absolutes Recht ist. Das hat auch das BVerfG in einer (allerdings weniger beachteten) Passage seines Volkszählungsurteils festgestellt:
„Dieses Recht auf ‚informationelle Selbstbestimmung‘ ist nicht schrankenlos gewährleistet. Der Einzelne hat nicht ein Recht im Sinne einer absoluten, uneinschränkbaren Herrschaft über ‚seine‘ Daten; er ist vielmehr eine sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfaltende, auf Kommunikation angewiesene Persönlichkeit. Information, auch soweit sie personenbezogen ist, stellt ein Abbild sozialer Realität dar, das nicht ausschließlich dem Betroffenen allein zugeordnet werden kann. Das Grundgesetz hat, wie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mehrfach hervorgehoben ist, die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden […]. Grundsätzlich muß daher der Einzelne Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen.“
BVerfG, Urt. v. 15.12.1983 – 1 BvR 209/83 u.a., BVerfGE 65, 1-71 Rz 150
Recht auf Datenschutz ist kein absolutes Recht
Auch das durch Art. 8 Grundrechtecharta gewährleistete Recht auf Datenschutz ist kein absolutes Recht. Das hat der EuGH bereits eindeutig festgestellt:
„Das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten kann jedoch keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern muss im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen werden.“
EuGH, Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C-92/09 und C-93/09, CR 2011, 71 Rz 48
Die beiden Feststellungen sind an sich Selbstverständlichkeiten. Auch der Normgeber der Datenschutz-Grundverordnung hat erkannt, dass das Datenschutzrecht kein absolutes Recht ist. Erwägungsgrund 4 der DS-GVO lautet entsprechend:
„Die Verarbeitung personenbezogener Daten sollte im Dienste der Menschheit stehen. Das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten ist kein uneingeschränktes Recht; es muss im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegen andere Grundrechte abgewogen werden. Diese Verordnung steht im Einklang mit allen Grundrechten und achtet alle Freiheiten und Grundsätze, die mit der Charta anerkannt wurden und in den Europäischen Verträgen verankert sind, insbesondere Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und der Kommunikation, Schutz personenbezogener Daten, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit, unternehmerische Freiheit, Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren und Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.“
Ewgr. 4 DSGVO
Klar ist somit, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und das Recht auf Datenschutz eingeschränkt werden können durch:
- Öffentliche Interessen
- Rechte und Interessen des Datenverarbeiters
- Rechte und Interessen Dritter
Nichtberücksichtigung entgegenstehender Rechte bei den Betroffenenrechten der DS-GVO
Leider ist diese Erkenntnis bei den Betroffenenrechten nur sehr unzureichend umgesetzt worden. Öffentliche Interessen und Rechte Dritter finden bei den Betroffenenrechten insgesamt nur unzureichend Berücksichtigung. Einzelne Betroffenenrechte sehen zwar zahlreiche Ausnahmen vor (so zum Beispiel das Recht auf Löschung gemäß Art. 17 DS-GVO). Andere Betroffenenrechte enthalten allerdings gar keine Ausnahmen (wie zum Beispiel das Auskunftsrecht gemäß Art. 15 DS-GVO). Dabei dürfte jedermann einleuchten, dass zum Beispiel dem Auskunftsrecht des Betroffenen ausnahmsweise die öffentliche Sicherheit oder Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse entgegenstehen können. Allein – die DS-GVO sieht dies nicht vor.
Wegen Nichtberücksichtigung der Rechte Dritter scheint mir daher zumindest die Regelung folgender Betroffenenrechte unverhältnismäßig & primärrechtswidrig:
- Recht auf Information gemäß Art. 13 DS-GVO
- Recht auf Auskunft gemäß Art. 15 Abs. 1 und 2 DS-GVO
- Recht auf Berichtigung gemäß Art. 16 Satz 1 DS-GVO
- Recht auf Vervollständigung gemäß Art. 16 Satz 2 DS-GVO
- Widerspruchsrecht gemäß Art. 21 Abs. 6 DS-GVO
Im Übrigen sind die Ausnahmetatbestände in höchstem Maße inkohärent. Die folgende Übersicht zeigt,
- welche Ausnahmen von den Betroffenenrechten der EU-Normgeber der DS-GVO vorgesehen hat (schwarze Punkte) und
- welche Ausnahmen der deutsche Gesetzgeber aufgrund der Öffnungsklausel des Art. 23 DS-GVO zusätzlich festgelegt hat (rote Punkte).
Ein System hinter den Ausnahmetatbeständen ist schlicht nicht erkennbar: