Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat heute drei Entscheidungen zur Kfz-Kennzeichenerfassung veröffentlicht. Es ging um Vorschriften des bayerischen, hessischen und baden-württembergischen Polizeirechts (BVerfG v. 18.12.2018, Az. 1 BvR 142/15, 1 BvR 2795/09, 1 BvR 3178/10). Das BVerfG hat die landesrechtlichen Bestimmungen zwar teilweise für verfassungswidrig erklärt. Aus den Entscheidungen lässt sich jedoch nicht ableiten, dass die Erfassung von Kennzeichen und deren Abgleich mit polizeilichen Datenbeständen grundsätzlich unzulässig ist. Die Gegner der Überwachung von Diesel-Fahrverboten sollten sich nicht zu früh freuen.
Für Freunde des Datenschutzes gibt es eine Reihe von Überraschungen:
Erste Ãœberraschung:Â Die informationelle Selbstbestimmung lebt
Wenn die Polizei systematisch Kfz-Kennzeichen erfasst und mit Fahndungsdaten abgleicht, geht es um Kernthemen des Datenschutzes. Der Datenschutz wurde 2016 durch die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) und die EU-Richtlinie für den Datenschutz bei Polizei und Justiz auf europäischer Ebene reformiert. Die europäische Debatte ist zudem stark davon geprägt, dass Art. 8 der Grundrechte-Charta (GRCh) den Datenschutz als eigenständiges Grundrecht versteht. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das das BVerfG in seinem Volkszählungsurteil (BVerfG vom 15.12.1093, Az. 1 BvR 209/83) aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitet hat, ist auf europäischer Ebene unbekannt.
Unbeirrt hält das BVerfG an dem selbst „erfundenen“ Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung als einzigem Maßstab seiner Entscheidung fest (Az. 1 BvR 142/15, Rz. 34 ff.). Die GRCh oder das neue europäische Datenschutzrecht kommen in den Entscheidungen ebenso wenig vor wie jüngere Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zum Datenschutz.
Zweite Ãœberraschung:Â Das BVerfG korrigiert sich selbst
Vor gerade einmal zehn Jahren hatte das BVerfG schon einmal über die Verfassungskonformität von Landesgesetzen entschieden, die eine Kfz-Kennzeichenüberwachung vorsahen. Damals hatten die Karlsruher Richter in „Nichttrefferfällen“ bereits einen Grundrechtseingriff verneint. Es fehle an einem Eingriff,
„wenn der Abgleich mit dem Fahndungsbestand unverzüglich vorgenommen wird und negativ ausfällt (sogenannter Nichttrefferfall) sowie zusätzlich rechtlich und technisch gesichert ist, dass die Daten anonym bleiben und sofort spurenlos und ohne die Möglichkeit, einen Personenbezug herzustellen, gelöscht werden“
(BVerfG v. 11.3.2018, Az. 1 BvR 2074/05 und 1 BvR 1254/07, Rz. 68;
ebenso zum Kreditkartenabgleich BVerfG v. 17.2.2009, Az. 2 BvR 1372/07, CR 2009, 381 Rz. 19 m. Anm. Schnabel)
Die Abgrenzung zwischen „Trefferfällen“ und „Nichttrefferfällen“ war stets mühsam, zumal das BVerfG diese Abgrenzung von mehreren Voraussetzungen abhängig machte („anonym“; „spurenlos“; „gelöscht“). Daher erleichtert es die Rechtsanwendung, dass das BVerfG diese Unterscheidung in seinen heute veröffentlichten Beschlüssen aufgibt und den Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung auf die „Nichttrefferfälle“ erweitert:
„Auch soweit die Kontrolle hinsichtlich des Beschwerdeführers zu einem Nichttreffer führt, liegen in der Erfassung und dem Abgleich seines Kraftfahrzeugkennzeichens Eingriffe in sein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Soweit dem die Entscheidung des Senats vom 11. März 2008 (BVerfGE 120, 378) entgegensteht, wird daran nicht festgehalten.“
(BVerfG v. 18.12.2018, Az. 1 BvR 142/15, Rdnr. 45)
Dritte Überraschung: Überschaubare Zulässigkeitshürden
Mit den Voraussetzungen für einen Grundrechtseingriff und den Anforderungen an die Zulässigkeit eines solchen Eingriffs verhält es sich wie bei kommunizierenden Röhren. Je schneller das BVerfG einen Eingriff bejaht, desto milder sind die Anforderungen an dessen Verfassungskonformität. Dies zeigen die Ausführungen des Gerichts zum Gefahrenmaßstab.
Nach dem bayerischen Polizeigesetz sollte ein Kennzeichenabgleich bereits zulässig sein, wenn ein solcher Abgleich zur Abwehr (irgend)einer Gefahr erforderlich ist. Dies genügt Karlsruhe nicht. Das BVerfG fordert eine
„Abwehr von Gefahren für Rechtsgüter von zumindest erheblichem Gewicht“.
(BVerfG v. 18.12.2018, Az. 1 BvR 142/15, Rz. 106)
Diese Schwelle ist indes weniger hoch, als sie auf den ersten Blick klingt:
„Dem erheblichen Eingriffsgewicht automatisierter Kraftfahrzeugkennzeichenkontrollen entspricht es, dass sie zu ihrer Rechtfertigung jeweils auf Gründe gestützt werden müssen, die dem Schutz von Rechtsgütern von zumindest erheblichem Gewicht oder sonst einem vergleichbar gewichtigen öffentlichen Interesse dienen. Zu diesen Rechtsgütern zählen zunächst die besonders schutzwürdigen Rechtsgüter wie Leib, Leben und Freiheit der Person und der Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder (vgl. BVerfGE 120, 274 <328>; 125, 260 <330>; 141, 220 <270 Rn. 108>). Darüber hinaus kommen aber auch Rechtsgüter in Betracht, die unterhalb dieser für besonders eingriffsintensive Überwachungsmaßnahmen geltenden Schwelle liegen wie etwa der Schutz von nicht unerheblichen Sachwerten. Der Gesetzgeber kann diese Schwelle im einzelnen näher konkretisieren und die Kennzeichenkontrolle etwa auch zur Verhinderung hinreichend gewichtiger Delikte zulassen, für deren Bekämpfung eine Kennzeichenkontrolle von besonderer Bedeutung ist, was gewichtige Ordnungswidrigkeiten einschließen kann. Für die verfassungsrechtliche Beurteilung kommt es auf die Ausgestaltung der Ermächtigung insgesamt an. Insoweit bedarf es sowohl einer Würdigung der vom Gesetzgeber bestimmten Zwecke, die sich aus den Bestimmungen für die Kennzeichenerfassung ergeben, als auch des Umfangs und Inhalts der Fahndungsbestände, die der Gesetzgeber für den Datenabgleich vorsieht.“
(BVerfG v. 18.12.2018, Az. 1 BvR 142/15, Rz. 99 – Hervorhebungen hinzugefügt)
Die Verhinderung „gewichtiger Ordnungswidrigkeiten“ kann einen Kennzeichenabgleich somit bereits rechtfertigen. Dasselbe gilt für Delikte, „für deren Bekämpfung eine Kennzeichenkontrolle von besonderer Bedeutung ist“ – eine Formulierung, die man sich auf der Zunge zergehen lassen muss, ist sie doch eine optimale Vorlage für die Überwachung von Fahrverboten. Denn wie lässt sich ein Fahrverbot besser durchsetzen als durch eine Kennzeichenkontrolle im Verbotsbereich?
Fazit
Auf die Frage nach der Zulässigkeit eines Kennzeichenabgleichs antwortet Karlsruhe – wie so oft – „Ja, aber“. Zugleich liefert das BVerfG eine komplizierte, aber handhabbare Blaupause für Gesetze zur Kennzeichenerfassung.
Auf die Beamten, die im Bundesverkehrsministerium an einem Gesetz für die Überwachung von Diesel-Fahrverboten arbeiten, wartet eine Tüftelaufgabe. Karlsruhe hat einen Weg aufgezeigt, wie sich ein verfassungskonformes Überwachungsgesetz formulieren und begründen lässt.