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Alternative Blindflug: Akteneinsicht bei der Aufsichtsbehörde

avatar  Niko Härting

Wenn Unternehmen Post von der Datenschutzbehörde bekommen, geht es meist um Auskünfte. Werden diese Auskünfte erteilt, ohne dass das Unternehmen zuvor Einsicht in die Behördenakte nimmt, droht ein Blindflug. Naive Offenherzigkeit bei der Auskunftserteilung hat schon manchem Unternehmen langwierige Aufsichtsverfahren und Bußgelder eingebrockt.

Beschwerden: der typische Verfahrensauftakt

Die meisten Verfahren der Datenschutzbehörden beginnen mit einer Beschwerde. Bürger beschweren sich über Videokameras, über Personalakten, die im Hausmüll gefunden wurden, oder über Fotos auf der Website einer Schule. Arbeitnehmerinnen beschweren sich über Personalakten, die in unverschlossenen Schränken aufbewahrt werden, oder über Lebensläufe von Bewerbern, die auch nach vielen Jahren noch nicht gelöscht oder vernichtet wurden. Kunden beschweren sich über Werbepost oder über Nachlässigkeiten beim Umgang mit Betroffenenrechten.

Auskunftsersuchen: die typische Reaktion

Die Aufsichtsbehörden reagieren routinemäßig mit Auskunftsersuchen. Sie schreiben das Unternehmen an, stellen Fragen, fordern eine Stellungnahme und setzen eine Frist. Rechtsgrundlage ist nach Art. 58 Abs. 1 lit. a DSGVO. Danach ist die Aufsichtsbehörde berechtigt,

„den Verantwortlichen, den Auftragsverarbeiter und gegebenenfalls den Vertreter des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters anzuweisen, alle Informationen bereitzustellen, die für die Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich sind.“

Ein solches Auskunftsersuchen ist ein Verwaltungsakt, auch wenn es – wie häufig – an einer Rechtsbehelfsbelehrung und anderen äußerlichen Merkmalen eines Verwaltungsakts fehlt (vgl. Härting/Flisek/Thieß, CR 2018, 296 ff., und https://www.cr-online.de/blog/2018/11/08/post-von-der-datenschutzbehoerde-risiken-des-wohlverhaltens/). Zugleich kann das Auskunftsersuchen der Auftakt zu einem Bußgeldverfahren sein. Wegen der daraus resultierenden Gefahr einer Selbstbelastung sieht § 40 Abs. 4 Satz 2 BDSG ein Auskunftsverweigerungsrecht vor (vgl. https://www.cr-online.de/blog/2019/09/16/warum-schweigen-gold-sein-kann-auskunftsersuchen-der-datenschutzbehoerde/).

Warum eigentlich Akteneinsicht?

Ohne vorherige Akteneinsicht kommt die Beantwortung eines Auskunftsersuchens einem Blindflug gleich. Nicht immer geht aus dem Behördenschreiben hervor, ob eine Beschwerde der Anlass für das Schreiben ist oder ob die Behörde anlasslos – etwa im Rahmen einer „Fragebogenaktion“ – handelt. Wenn es eine Beschwerde gab, ist meist unklar, wer sich bei der Behörde beschwert hat und welche Angaben oder Vorwürfe der Beschwerdeführer erhoben hat. Wer all dies nicht weiß, riskiert bei einer „blinden“ Beantwortung des Auskunftsersuchens Missverständnisse und Fehlschlüsse der Datenschutzbehörde. Nicht selten waren großzügige Auskünfte der Beginn langwieriger Verfahren, die im schlimmsten Fall zu Bußgeldern führen.

Akteneinsicht: außerhalb des Datenschutzes gängige Praxis

In Verwaltungs- und Bußgeldverfahren außerhalb des Datenschutzes ist die Akteneinsicht Routine. Kein Anwalt würde seiner Mandantin empfehlen, eine Anzeige wegen einer Verletzung von Arbeitsschutzvorschriften ohne vorherige Akteneinsicht zu beantworten. Ebenso ist die Akteneinsicht der erste Verfahrensschritt, wenn sich das Bauamt meldet, weil sich ein Nachbar über Baumängel beschwert hat. Auch wenn sich das Umweltamt meldet, weil es Beschwerden über eine nicht ordnungsgemäße Abfallentsorgung gegeben hat, würde keine Anwältin empfehlen, ein solches Schreiben ohne vorherige Akteneinsicht zu beantworten.

Rechtsgrundlagen

Im Verwaltungsverfahren ergibt sich das Akteneinsichtsrecht aus § 29 VwVfG. Für das Bußgeldverfahren ist das Recht des Betroffenen auf Akteneinsicht in § 49 OWiG geregelt. Verweigert werden darf die Akteneinsicht nur aus den Gründen, die in § 29 VwVfG und § 49 OWiG genannt werden – etwa aufgrund schutzwürdiger Interessen Dritter (§ 29 Abs. 2 VwVfG und § 49 Abs. 1 Satz 1 OWiG).

Grundrecht auf rechtliches Gehör

Das Recht auf Akteneinsicht hat einen verfassungsrechtlichen „Überbau“ und kann daher nicht einfachgesetzlich ausgeschlossen werden (problematisch daher Art. 20 Abs. 2 BayDSG). Das Einsichtsrechts ist integraler Bestandteil des Grundrechts auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Nur wenn der Bürger die Tatsachen und Beweise kennt, auf die eine Behörde oder ein Gericht seine Maßnahmen stützen möchte, kann er sein Grundrecht aus Art. 103 Abs. 1 GG auch tatsächlich verwirklichen:

„Eine Art. 103 I GG genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt voraus, dass die Verfahrensbeteiligten zu erkennen vermögen, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann. Sie müssen sich bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt über den gesamten Verfahrensstoff informieren können (BVerfGE 89, 28 [35] = NVwZ 1993, 1181 L = NJW 1993, 2229 m.w. Nachw.). Das Gebot rechtlichen Gehörs sichert daher den Beteiligten ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten im Prozess selbstbestimmt und situationsspezifisch gestalten können (vgl. BVerfGE 81, 123 [129] = NJW 1990, 1104). Zum Recht auf rechtliches Gehör gehört daher auch die Möglichkeit der Akteneinsicht (vgl. BVerfGK 7, 205 [212] = NJW 2006, 1048; vgl. im Schrifttum u.a. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 8. Aufl., Art. 103 Rdnr. 15; Koch, in: Gräber, FGO, 6. Aufl. [2006], § 78 Rdnr. 1a).“

(BVerfG vom 13.4.2010, 1 BvR 3515/08, Rdnr. 36; ähnlich BVerfG vom 19.1.2006, 2 BvR 1075/05, NJW 2006, 2048, 2049; BVerfG vom 9.9.2013, Az. 2 BvR 533/13, Rdnr. 21 ff.)

Auf einfachgesetzlicher Ebene soll § 29 VwVfG das Anliegen des Art. 103 Abs. 1 GG verwirklichen, die Transparenz der Entscheidungsgrundlagen erhöhen und damit verhindern, dass der Beteiligte zum bloßen Objekt behördlichen Handelns gemacht wird (Kallerhoff/Mayen in Stelkens/Bock/Sachs, VwVfG, 9. Auf. 2018, § 29 Rdnr. 4).

Was versteht man eigentlich unter „der Akten“?

Zu den Akten zählen alle Unterlagen, die das konkrete Verfahren betreffen, wie Schriftsätze, Gutachten, Aktenvermerke, Randbemerkungen auf Schriftstücken, sowie Fotos, Videos und der gesamte Inhalt einer elektronischen (Bei-)Akte. Es gilt dabei ein materieller Aktenbegriff. Alle das konkrete Verfahren betreffende Unterlagen werden von der Akte erfasst, gleichgültig ob sie in einem Ordner zusammengefasst sind oder auch auf andere Vorgänge verteilt sind. Schriftstücke müssen unverfälscht und unverändert zu den Akten genommen werden, Vermerke in der Form, in der sie zu Papier gebracht wurden (Herrmann in VwVfG in Bader/Ronellenfitsch, VwVfG, 44. Edition 2019, Rdnr. 9).

Die Aufsichtsbehörde darf sich somit nicht darauf beschränken, eine Verfahrensakte zur Einsicht zugänglich zu machen. Sie muss darüber hinaus prüfen, ob sie noch über weiter Unterlagen verfügt, die für den jeweiligen Vorgang relevant sind. Ggf. muss die Behörde die Akte entsprechend ergänzen.

Vorsicht Beratungsfehler

Die Akteneinsicht ist das gute Recht jedes Bürgers. Dies gilt für Verfahren der Datenschutzbehörden genauso wie für jedes andere behördliche Verfahren. Die Akteneinsicht gehört daher auch in das Pflichtprogramm jeder Beratung in aufsichtsbehördliche Verfahren. So freundlich es auch gemeint sein mag, einer Datenschutzbehörde offenherzig Auskünfte zu erteilen, ein Verzicht auf das vorherige Einsichtsrecht kann ein Unternehmen teuer zu stehen kommen.

(Diesen Beitrag habe ich gemeinsam mit meinem Kollegen Lasse Konrad verfasst: https://www.haerting.de/team/lasse-konrad. Der Beitrag ist der vierte Teil der Beitragsreihe zur “DSGVO im Rechtsstaat”).

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Mehr zum Autor: RA Prof. Niko Härting ist namensgebender Partner von HÄRTING Rechtsanwälte, Berlin. Er ist Mitglied der Schriftleitung Computer und Recht (CR) und ständiger Mitarbeiter vom IT-Rechtsberater (ITRB) und vom IP-Rechtsberater (IPRB). Er hat das Standardwerk zum Internetrecht, 6. Aufl. 2017, verfasst und betreut den Webdesign-Vertrag in Redeker (Hrsg.), Handbuch der IT-Verträge (Loseblatt). Zuletzt erschienen: "Datenschutz-Grundverordnung".

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