Der erste Streich kam kurz vor Weihnachten, als das BMJV den „Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität“ vorlegte (https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/RefE_BekaempfungHatespeech.pdf;jsessionid=77CFC7DD0AB7F61E0542A971B113C198.1_cid334?__blob=publicationFile&v=1). Ohne auf die Kritik an diesem Entwurf bislang zu reagieren, folgt heute kurz nach Neujahr der zweite Streich des BMJV – der „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes“ (https://t.co/rToHnNqv9u).
Die beiden Gesetzesentwürfe haben einen inhaltsgleichen ersten Absatz. Man konstatiert „eine zunehmende Verrohung der Kommunikation“ bzw. die „Notwendigkeit der Bekämpfung strafbarer Hassrede“ im Netz und stellt die äußerst gewagte These auf, man müsse den freien Austausch von Meinungen der Mehrheit der Bevölkerung gegen extremistische Minderheiten schützen (https://www.cr-online.de/blog/2019/12/15/bmjv-auf-irrwegen-verschaerftes-netzdg-soll-den-gesellschaftlichen-mainstream-gegen-minderheiten-schuetzen/). Beide Gesetzesentwürfe enthalten Änderungen des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG). Man reibt sich staunend die Augen: In zwei verschiedenen Gesetzgebungsverfahren sollen an ein und demselben Gesetz erhebliche Änderungen vorgenommen werden. Transparente Gesetzgebung sieht anders aus.
Der „Weihnachtsentwurf“ des BMJV enthält eine Reihe höchst problematischer Vorhaben. Wer Rechtswidriges postet, soll in Zukunft befürchten müssen, dass der Plattformbetreiber zur Herausgabe des Passworts verpflichtet wird. Zahlreiche Straftatbestände sollen verschärft werden, und beim BKA sollen Postings, IP-Adressen und weitere Daten über Nutzer gespeichert werden, die – tatsächlich oder auch nur vermeintlich – Rechtswidriges gepostet haben. Statt Polizei und Staatsanwaltschaften so auszustatten, dass Straftaten im Netz auch tatsächlich in nennenswertem Umfang verfolgt werden, setzt man auf neue Strafgesetze und auf die Plattformbetreiber, die die Arbeit erledigen sollen, zu denen die Ermittlungsbehörden nicht imstande sind. Das ist jedenfalls nicht gut für die freie Kommunikation im Netz, fördert nachahmende Gesetze in totalitären Staaten und ist von einer „Law and Order“-Mentalität geprägt, die den Bürgerrechten nur wenig Raum gibt (vgl.     https://anwaltverein.de/de/newsroom/sn-6-20-bekaempfung-hasskriminalitaet-und-rechtsextremismus?scope=modal&target=modal_reader_24&file=files/anwaltverein.de/downloads/newsroom/stellungnahmen/2020/dav-sn_6-20_hasskriminalitaet.pdf).
Der heutige „Neujahrsentwurf“ enthält weitere Verschärfungen des NetzDG, die nicht weniger bedenklich sind. Besonders problematisch § 2 Abs. 2 Nr. 2 und 13 NetzDG-E:
- Netzwerkbetreiber sollen durch neue Berichtspflichten dazu ermutigt werden, mithilfe Künstlicher Intelligenz bestimmte Inhalte systematisch zu sperren und löschen (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 NetzDG-E).
- Netzwerkbetreiber sollen regelmäßig berichten, „welche Gruppen von Nutzern rechtswidrige Inhalte besonders häufig teilen oder der Öffentlichkeit zugänglich machen“ (§ 2 Abs. 2 Nr. 13 NetzDG-E)
Das systematische und automatische Sperren bestimmter Inhalte durch eine staatliche Behörde wäre rechtsstaatlich höchst bedenklich. Dasselbe gilt für eine Einteilung der Nutzer in „Gruppen“, um Aussagen über eine besondere Auffälligkeit bestimmter Gruppen zu tätigen. Eine derartige Überwachung von Netzinhalten ist der erste Schritt zur Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen und zur Unterdrückung unerwünschter, missverständlicher oder auch satirischer Meinungsäußerungen. Dass das BMJV keine staatliche Stelle mit einer solchen Überwachung beauftragen möchte, sondern die Netzwerkbetreiber zur systematischen Überwachung ermutigt, macht den Gesetzesvorschlag nicht besser. Die bedenkliche Tendenz, Aufgaben der staatlichen Ermittlungsbehörden an private Unternehmen (fast alle mit Hauptsitz in den USA) outzusourcen, setzt sich fort.
Die Verschärfungen des NetzDG, die die beiden Gesetzesentwürfe vorsehen, bedürfen einer breiten gesellschaftspolitischen Diskussion. Das BMJV wird hoffentlich zu einer transparenten Linie zurückkehren und gar nicht den Versuch unternehmen, die Entwürfe eilig durch Bundestag und Bundesrat zu hasten. Seid wachsam, Bürgerrechtler!