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Eine Frage des Verfassungsrechts: Welche „legitimen Zwecke“ verfolgt die Corona-Politik eigentlich?

avatar  Niko Härting

Im zweiten Pandemiejahr bleibt der genaue Zweck der Corona-Maßnahmen vage und geht selten über den Schutz von Leben und Gesundheit hinaus. Dies erschwert jede Prüfung der Verhältnismäßigkeit und jede rationale Diskussion. Gerade weil es um den Lebensschutz und Grundrechte geht, führt jedoch kein Weg an gedanklicher Schärfe und Rationalität vorbei. Es ist an der Zeit, dem Gebot eines „legitimen Zwecks“ mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) steht die Frage nach dem „legitimen Zweck“ am Anfang jeder Prüfung der Verhältnismäßigkeit.

Detailverliebte Verbote, vage Zwecke

Die Corona-Verordnungen der Bundesländer werden von Woche zu Woche länger und detailverliebter. Je konkreter die Verbote sind, desto unsinniger wird jeder Versuch, diese Verbote – ganz allgemein – am Zweck der „Schutzes von Leben und Gesundheit“ zu messen:

  • Wie soll man sinnvoll beurteilen, ob es zum Schutz von Leben und Gesundheit geeignet, erforderlich und angemessen ist, den Alkoholverkauf ab 23 Uhr zu verbieten?
  • Wie lässt sich sinnvoll entscheiden, ob es der Schutz von Leben und Gesundheit notwendig macht, dass man im Freien mit höchstens fünf Personen aus zwei Haushalten Sport treiben darf?
  • Nach welchem Maßstab lässt sich entscheiden, ob es zum Schutz von Leben und Gesundheit angemessen ist, Freizeitparks zu schließen?
  • Wie soll man beurteilen, ob eine Sammlung von Kontaktdaten der Besucherinnen einer Drogenberatungsstelle zum Schutz von Leben und Gesundheit angemessen ist?

Wenn Pensionäre Tennis spielen möchten

Wenn man einen Eindruck gewinnen möchte, wie schwer die Rechtsanwendung fällt, wenn sich der Zweck von Maßnahmen im Ungefähren verliert, lohnt sich der Blick in eine der vielen Corona-Entscheidungen der Verwaltungsgerichte. So ging es in einer Entscheidung des OVG Saarlouis kürzlich um die Frage, ob es verhältnismäßig ist, einem 82-jährigen Tennisspieler zu verbieten, sich in einer Halle durch regelmäßige Matches fit zu halten.

Das saarländische OVG benannte einen bunten Strauß von Zwecken des Spielverbots:

„Eindämmung der Verbreitung des Virus Covid-19“

„Anstieg des Infektionsgeschehens auf eine wieder nachverfolgbare Größe zu senken“

„Überforderung des Gesundheitssystems … vermeiden“

„Entstehung von Infektionsketten … vermeiden“

„Verhinderung einer weiteren Ausbreitung von Infektionen“

(OVG Saarlouis vom 16.3.2021, Az.: 2 B 71/21, Rn. 12 f.)

Je vager die Zwecke sind, desto leichter lassen sich Beschränkung rechtfertigen. Aber ist es wirklich „legitim“, einem 82-Jährigen den Sport zur „Eindämmung der Verbreitung des Virus Covid-19“ zu untersagen? Eine Frage, die das saarländische Gericht – wie viele andere Verwaltungsgerichte – gar nicht erst stellte.

Anspruchsvoller wird die Prüfung, sobald man die Maßnahmenzwecke konkretisiert. Dient das Sportverbot der Vermeidung einer „Überforderung des Gesundheitssystems“ oder der „Nachverfolgbarkeit von Infektionsketten“, stellt sich sofort die – vom OLG Saarlouis jedoch ebenso wenig gestellte – Frage, ob denn im Saarland tatsächlich eine Überlastung der Krankenhäuser droht und ob es bei den Gesundheitsämtern ein funktionierendes System der „Kontaktnachverfolgung“ gibt, das an seine Grenzen zu geraten droht.

Keine Verhältnismäßigkeit ohne „legitimen Zweck“

Der „legitime Zweck“ ist die Grundvoraussetzung jeder Verhältnismäßigkeit, wenn es um Grundrechtsbeschränkungen geht. Ohne einen solchen Zweck lassen sich weder die Geeignetheit noch die Erforderlichkeit oder Angemessenheit von Beschränkungen prüfen. Die Verhältnismäßigkeit setzt das Mittel – die „Maßnahme“ – in eine Relation zu ihrem Zweck. Bleibt der Zweck diffus oder vage, lässt sich die Verhältnismäßigkeit nicht sinnvoll beurteilen. Der „legitime Zweck“ ist in der Rechtsprechung des BVerfG seit jeher der Ausgangspunkt und zugleich der erste Prüfungspunkt jeder Beurteilung der Verhältnismäßigkeit.

Die Sterbehilfe-Entscheidung des BVerfG

Nur selten hat Karlsruhe die Gelegenheit, präzise Anforderungen an den „legitimen Zweck“ zu formulieren, dem jeder Grundrechtseingriff dienen muss. Besonders lesenswert ist daher die Entscheidung zur Sterbehilfe vom 26.2.2020 (Az.: 2 BvR 2347/15). Ab Rn. 227 geht es in dieser Entscheidung mit großer Ausführlichkeit um die Maßstäbe, die an einen „legitimen Regelungszweck“ anzulegen sind. Das BVerfG hat sich nicht damit begnügt, dass das Verbot gewerblicher Sterbehilfe dem Lebensschutz dient und somit – ebenso wie die Corona-Maßnahmen – die staatliche Pflicht zum Lebensschutz aus Art. 2 Abs. 2 GG verwirklicht. Vielmehr hat sich das BVerfG um eine Konkretisierung bemüht und dabei insbesondere folgenden Satz formuliert (Rn. 234):

„Suizidhilfe ausschließlich deshalb zu verbieten, weil die Selbsttötung und die Hilfe hierzu in Widerspruch zu der Mehrheitsauffassung in der Gesellschaft stehen, wie mit dem eigenen Leben, insbesondere im Alter und bei Krankheit, umzugehen ist, ist deshalb kein legitimes gesetzgeberisches Ziel.“

Selbstbestimmung hat Vorrang vor Lebensschutz

Dieser Satz setzt dem Lebensschutz Grenzen, die auch für die Corona-Maßnahmen gelten. Denn die staatliche Schutzpflicht für das Leben würde überspannt, wenn es den Bürgerinnen und Bürgern verboten würde, selbstbestimmt Risiken für ihre Gesundheit einzugehen. Für die eigene Gesundheit und das eigenen Leben ist der Bürger zunächst einmal selbst verantwortlich. Es ist kein „legitimes“ Anliegen, kein „legitimer Zweck“ einer Grundrechtsbeschränkung, Leben und Gesundheit von Bürgern gegen deren (freien) Willen zu schützen.

Damit lässt sich dem Pensionär, der Sport treiben möchte, auch nicht entgegenhalten, dass man ihm den Sport zur „Eindämmung der Verbreitung des Virus“ verbietet. Die „Eindämmung“ ist per se kein legitimes Maßnahmenziel.

Selbstgefährdung ist erlaubt

Man wird jetzt einwenden, dass der ältere Herr ja nicht alleine Tennis spielt. Wenn das Sportverbot nicht seinem Schutz dienen kann, dann kann es ja noch immer um den Schutz seiner Mitspieler gehen oder um den Schutz von Menschen, denen er zufällig auf dem Weg zur Tennishalle begegnet. Auch diese Menschen haben jedoch einen freien Willen, der von Verfassungs wegen zu respektieren ist. Wer nicht zu Hause bleibt und mit dem 82-Jährigen Tennis spielt, setzt sich aus freien Stücken einem (wie auch immer zu bemessenden) Ansteckungsrisiko aus, sodass es nicht „legitim“ sein kann, ihn gegen seinen Willen vor Ansteckungen zu schützen. Und auch bei Zufallsbegegnungen ist die Frage erlaubt, ob es sich nicht so verhält, dass Personen, die sich im öffentlichen Raum bewegen, freiwillig und selbstbestimmt Ansteckungsrisiken eingehen.

Droht den Kapazitäten der Krankenhäuser wirklich der Kollaps?

Ein fraglos legitimer Zweck ist der Schutz des Gesundheitssystems vor dem Kollaps. Dann aber stellen sich tatsächliche Fragen. Sind die Verhältnisse wirklich so, dass im Saarland oder anderswo die Kapazitäten der Krankenhäuser kurz vor der Erschöpfung stehen? Was sagen die täglichen Statistiken des DIVI-Intensivregisters (https://www.intensivregister.de/#/index)? Und welche Möglichkeiten hat der Staat, Krankenhauskapazitäten – falls erforderlich – als „milderes Mittel“ auszuweiten?

Verfassungsrechtlich nicht zu halten sein wird der – oft gehörte – Einwand, man wolle die Kapazitäten der Krankenhäuser bewusst nicht auslasten, um Leben zu schonen. Denn auch dieser Einwand verliert sich im Ungefähren, kann er doch keine Grenze benennen, bis zu der Infektionen hingenommen werden. Ohne eine solche Grenze entzieht sich die „Legitimität“ des Maßnahmenzwecks jeder rationalen Diskussion. Auch und gerade wenn es um Menschenleben und Grundrechte geht, verlangen das Grundgesetz und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gedankliche Schärfe und Rationalität.

Gibt es überhaupt ein stimmiges, funktionierendes System der „Nachverfolgung“ von Infektionsketten?

Ein legitimer Zweck mag auch die Gewährleistung einer „Nachverfolgbarkeit von Infektionsketten“ durch die Gesundheitsämter sein. Auch an diesen Zweck knüpfen sich jedoch konkrete Sachverhaltsfragen an: Hat es überhaupt jemals – zumindest regional – ein stimmiges, funktionierendes Konzept für die „Nachverfolgung“ gegeben? Wo genau liegen die Kapazitätsgrenzen und wie lassen sich diese Kapazitätsgrenzen erforderlichenfalls („milderes Mittel“) erweitern?

Der Zweck der Corona-Maßnahmen ist immer noch so vage wie vor einem Jahr

„Allein der „Gesundheitsschutz‘ ist jedenfalls kein Grund, die Ausgangsbeschränkungen und Betriebsschließungen über den 19.4. hinaus zu verlängern, ohne gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu verstoßen und einen Verfassungsverstoß in Kauf zu nehmen.“

(Zweck und Zweckbindung: Warum die Lockerung der Corona-Maßnahmen verfassungsrechtlich notwendig ist; CR-online.de Blog-Beitrag v. 13.4.2020)

Dies schrieb ich am Ostermontag 2020, nachdem sich das BVerfG in seiner Gottesdienst-Entscheidung am 10.4.2020 erstmals eingehend mit diesen Maßnahmen befasst hatte (BVerfG vom 10.4.2020, Az.: 1 BvQ 28/20)

Wann endet das lange Schweigen des BVerfG?

Ostern 2021 ist der Zweck der Corona-Maßnahmen immer noch so diffus wie vor einem Jahr. Höchste Zeit, dass das Bundesverfassungsgericht sein Schweigen bricht und hoffentlich schon bald daran erinnert, dass sich die Legitimität der Maßnahmenzwecke nicht beurteilen lässt, wenn man die Politik aus der Verantwortung entlässt, präzise Ziele zu formulieren.

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Mehr zum Autor: RA Prof. Niko Härting ist namensgebender Partner von HÄRTING Rechtsanwälte, Berlin. Er ist Mitglied der Schriftleitung Computer und Recht (CR) und ständiger Mitarbeiter vom IT-Rechtsberater (ITRB) und vom IP-Rechtsberater (IPRB). Er hat das Standardwerk zum Internetrecht, 6. Aufl. 2017, verfasst und betreut den Webdesign-Vertrag in Redeker (Hrsg.), Handbuch der IT-Verträge (Loseblatt). Zuletzt erschienen: "Datenschutz-Grundverordnung".

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