… wo schleicht herum der Denunziant (Max Kegel, Der Denunziant, 1884).
Der Informant hat wahrlich keinen guten Ruf. Entsprechend zahlreich sind die Synonyme, die die deutsche Sprache für ihn kennt, und die Assoziationen, die sich – natürlich auch geschichtsbelastet – mit ihm wecken lassen: Denunziant, Blockwart, Spitzel, Verräter, Lauscher, Schnüffler, Zuträger, Sittenwächter, Moralpolizei, IM (inoffizieller Mitarbeiter).
Dem entgegen stehen gesetzgeberische Bemühungen der letzten Jahre, den im tatsächlich oder vermeintlich schutzwürdigen Interesse handelnden Informanten rechtlich besser abzusichern oder ihn als Helfer der Staatsgewalt positiver bewertet zu etablieren: als Kronzeuge, als Enthüllungsjournalist, als V-Mann oder Vertrauensperson, als Whistleblower, als Hinweisgeber, als Meldestelle.
1. Der „vertrauenswürdige Hinweisgeber“ (= „trusted flagger“)
Die neueste Wortschöpfung des EU-Normgebers ist der „vertrauenswürdige Hinweisgeber“ (englisch: „trusted flagger“). Ihn sieht Art. 22 Digital Services Act (DSA) vor. Seine Aufgabe ist es, den Online-Plattformen bevorrechtigt Inhalte zu melden, die er als rechtswidrige Inhalte ansieht (Art. 16 Abs. 1 DSA).
Schon das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) verpflichtete soziale Netzwerke, Verfahren für „Beschwerden über rechtswidrige Inhalte“ vorzusehen. Seit 2017 ist der Hinweisgeber damit in der Plattformregulierung in Deutschland gesetzlich anerkannt. Im NetzDG hieß er noch „Beschwerdeführer“. Der DSA institutionalisiert ihn weiter, denn nunmehr wird der private Hinweisgeber staatlich zertifiziert. Zuständig hierfür ist der Digital Services Coordinator (DSC) – in Deutschland die Bundesnetzagentur. Diese hat am 1. Oktober 2024 mit der Meldestelle REspect! der Stiftung zur Förderung der Jugend in Baden-Württemberg mit Sitz in Sersheim den ersten „Trusted Flagger“ in Deutschland zertifiziert.
2. Zusammenwirken zwischen Staat und Privaten bei der Inhalteüberwachung
Dem Staat ist wegen Art. 5 GG untersagt, die Meinungsfreiheit seiner Bürger in zensorischer Weise einzuschränken. Vor allem die Frage, wieviel Staat im „vertrauenswürdigen Hinweisgeber“ steckt, ist daher relevant. Zunächst ist festzustellen, dass die Meldestelle REspect! laut eigener Webseite selbst von staatlichen Stellen gefördert wird, und zwar durch:
- Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration des Landes Baden-Württemberg
- Demokratiezentrum Baden-Württemberg (dessen Gesamtkoordination laut Webseite beim Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg liegt)
- Bayerisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales
- Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend
Durch die Zertifizierung als „vertrauenswürdiger Hinweisgeber“ wird nunmehr erreicht, dass Meldungen der Meldestelle REspect! bei Online-Plattformen von diesen vorrangig behandelt, unverzüglich bearbeitet und einer Entscheidung zugeführt werden müssen (Art. 22 Abs. 1 DSA).
Dass eine private Organisation vom Staat für die Ãœberwachung von für die Meinungsfreiheit relevanten Inhalten zunächst finanziell gefördert und sodann zertifiziert wird, erweckt bereits den bösen Schein der Einflussnahme des Staates auf den politischen Kampf der Meinungen. Dass dieselbe private Organisation allerdings bereits vor dieser Zertifizierung und unabhängig vom DSA von der „Zentralen Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet“ des Bundeskriminalamtes (ZMI BKA) als Kooperationspartner anerkannt war, verstärkt diesen Eindruck:
- Als „Kooperationspartner“ der ZMI BKA liefert die Meldestelle REspect! dem BKA Meldungen, die zur Prüfung der strafrechtlichen Relevanz und zur Ãœbermittlung an die zuständigen Strafverfolgungsbehörden führen können. Insofern ist die Meldestelle in Verfahren zur Strafverfolgung eingebunden. Die Meldekette ist nach der Darstellung des BKA wie folgt: Meldende Person > Kooperationspartner (u. a. Meldestelle Respect!) > Bundeskriminalamt > Strafverfolgungsbehörde > Landesmedienanstalten > Online-Plattform. Anscheinend ist die Einbeziehung von Kooperationspartnern eine Reaktion darauf, dass Online-Plattformen gegen die Meldepflichten nach dem früheren NetzDG gerichtlich erfolgreich vorgegangen sind und nichts gemeldet haben. Auf der Webseite der ZMI BKA heißt es dazu:
„Um der digitalen Hasskriminalität im Internet dennoch ein wirkungsvolles Instrument entgegenzusetzen, hat die ZMI BKA auf Grundlage der Zentralstellenfunktion des BKA gemäß § 2 BKAG eine Kooperation mit freiwilligen Partnern aufgebaut.“ (Hervorhebung durch Verfasser)
- Als „vertrauenswürdiger Hinweisgeber“ leitet die Meldestelle REspect! nunmehr Meldungen vorgeblich rechtswidriger Inhalte an Online-Plattformen weiter, die von diesen vorrangig bearbeitet werden müssen. Insofern ist die Meldestelle in die Aufgabe der Online-Plattformen eingebunden, rechtswidrige Inhalte schnell und zuverlässig zu beseitigen. Die Meldekette ist nach der Konzeption des DSA wie folgt: Meldende Person > Vertrauenswürdiger Hinweisgeber (u. a. Meldestelle REspect!) > Onlineplattform > Außergerichtliche Streitbeilegungsstelle.
Dieses enge Zusammenwirken zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren ist zunächst einmal unter Transparenzgesichtspunkten problematisch.
3. Meldestellen, wohin das Auge blickt
Der Staat trägt leider selbst dazu bei, den Unterschied zwischen „privat“ und „hoheitlich“ zu verwischen. Das beginnt schon damit, dass er seine Meldebehörden genau so benennt wie Private – nämlich „Meldestelle“:
Beispiele für staatliche Meldestellen:
- Zentrale Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet des Bundeskriminalamtes
- Meldestelle „HessenGegenHetze“ des Hessischen Ministeriums des Innern, für Sicherheit und Heimatschutz
Beispiele für private Meldestellen:
- Meldestelle „REspect!“ der Jugendstiftung im Demokratiezentrum Baden-Württemberg
- Internet-Beschwerdestelle der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM) e.V. und eco – Verband der Internetwirtschaft e.V.
Nordrhein-Westfalen wirbt gar mit einem „bundesweit einzigartigen System“ von Meldestellen, für die jeweils 140.000 € bereitgestellt würden und die Vorfälle auch unterhalb (!) der Strafbarkeitsgrenze erfassen, analysieren und dokumentieren:
- Meldestelle Antisemitismus
- Meldestelle Queerfeindlichkeit
- Meldestelle antimuslimischer Rassismus
- Meldestelle Antiziganismus
- Meldestelle anti-Schwarzer, antiasiatischer und weiterer Formen von Rassismus
Man muss schon sehr genau hinsehen und sollte Jurist sein, um die Unterschiede zwischen diesen unterschiedlichen „Meldestellen“ im Hinblick auf Rechtsschutz und Grundrechtsbindung zu erkennen. Gegen öffentliche Stellen ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet. Und diese sind unmittelbar an die Grundrechte gebunden, was im meinungsfreiheitsrelevanten Bereich des Äußerungsrechts von herausragender Bedeutung ist.
4. Wieviel Staat steckt im „vertrauenswürdigen Hinweisgeber“?
Nun werden also zusätzlich zu den staatlich geförderten und mitfinanzierten privaten Meldestellen und den behördlicherseits eingerichteten staatlichen Meldestellen auch noch die „Trusted Flagger“ im Sinne des Digital Services Act als neue Akteure eingeführt. Aber wieviel Staat steckt in ihnen?
Generell können nach dem Digital Services Act öffentliche, halböffentliche und nichtstaatliche Einrichtungen sog. „vertrauenswürdige Hinweisgeber“ sein (EG 61 Satz 4 DSA). Hier setzt sich die Tendenz unklarer Trennung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren fort. Staatliche Meldestellen sind als „vertrauenswürdige Hinweisgeber“ ebenso willkommen wie Nichtregierungsorganisationen und Wirtschaftsverbände (EG 61 Sätze 4 und 6 DSA).
Viele Rechtsfragen sind im Zusammenhang mit dem Rechtsstatus des „vertrauenswürdigen Hinweisgebers“ noch ungeklärt. Seine Einbindung in die Erfüllung der genuin staatlichen Aufgabe der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung wirft die Frage auf, ob er als Erfüllungsgehilfe des Staates anders zu behandeln ist als rein private Akteure. Das deutsche Verwaltungsrecht kennt mit dem Verwaltungshelfer und dem Beliehenen Rechtsinstitute für nichtstaatliche Akteure, die den Staat bei seiner Aufgabenerfüllung unterstützen.
Der „vertrauenswürdige Hinweisgeber“ könnte als Beliehener anzusehen sein. Eine Beleihung bewirkt, dass Privatpersonen Verwaltungsaufgaben selbständig wahrnehmen dürfen bzw. müssen, wobei sie eine eigene Entscheidungskompetenz haben. Wenn der „vertrauenswürdige Hinweisgeber“ Beliehener ist, wäre unmittelbarer Verwaltungsrechtsschutz gegen seine Handlungen möglich. Der „vertrauenswürdige Hinweisgeber“ unterläge darüber hinaus unmittelbar der Grundrechtsbindung, die ihn bei der Entscheidung über Meldungen zur Berücksichtigung der Meinungsfreiheit zwänge. Drittrechtsschutz wäre eventuell auch gegen die Zertifizierung eines „vertrauenswürdigen Hinweisgebers“ durch die Bundesnetzagentur möglich. Beliehene sind auch gegenüber jedermann informationspflichtig nach dem Informationsfreiheitsgesetz des Bundes oder den Informationsfreiheits- oder Transparenzgesetzen der Länder.
Doch auch, wenn der „vertrauenswürdige Hinweisgeber“ nur als privater Akteur zu beurteilen ist, wäre er über die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte an die Meinungsfreiheit gebunden, was jedenfalls für Online-Plattformen in der Rechtsprechung mittlerweile anerkannt ist.
5. Vorläufiges Fazit
Es ist schon seltsam, mit welcher Begeisterung viele zur „Meldung“ von Inhalten aufrufen und dabei bewusst oder unbewusst – teilweise aber sogar ausdrücklich – nicht nur strafbare oder zumindest rechtswidrige Inhalte meinen. Es ist erschreckend, dass 34 Jahre nach dem Ende der DDR staatliche Stellen mit der „Errichtung eines einzigartigen Systems“ von Meldestellen werben. Es scheint völlig in Vergessenheit geraten zu sein, welch zersetzende Kraft Denunziation, Bespitzelung und Verdächtigung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt haben, wenn sie systematisch durch staatliche, halbstaatliche und nichtstaatliche Akteure betrieben werden.
Schon der böse Schein der staatlichen Einflussnahme reicht im derzeit aufgeheizten politischen Klima, um das Vertrauen in die Unabhängigkeit, Neutralität und Objektivität staatlicher Stellen zu beschädigen. Wenn nicht mehr klar zwischen privaten Akteuren und staatlichen Behörden unterschieden wird oder diese so eng zusammenarbeiten, dass die Unterscheidung schwierig wird, untergräbt dies die Legitimität staatlichen Handelns.
Zweifelhaft ist im Übrigen auch die datenschutzrechtliche Beurteilung des Systems der EU-Inhalteüberwachung. Diese erscheint sogar in der ansonsten so aufmerksamen datenschutzrechtlichen Fachöffentlichkeit unterbelichtet. Teilweise wird noch nicht einmal erkannt, dass eine Meinungsäußerung ein personenbezogenes Datum und die Übermittlung des Postings eines Internetnutzers dementsprechend ein datenschutzrechtlich relevanter Vorgang ist. Doch die datenschutzrechtlichen Fragen sollen dem zweiten Teil des Blogbeitrags vorbehalten sein.
Fortsetzung folgt …