Der Datenschutz schaut viel zu sehr auf das einzelne Datum und viel zu wenig auf den Verwendungskontext. Dies zeigt sich ganz besonders bei Diskussionen um den Begriff der „besonderen Kategorien personenbezogener Daten“ (Art. 9 DSGVO):
Schein und Wirklichkeit
„Max Mustermann ist ein weißer Europäer, heterosexuell und kerngesund. Er würde nie AfD wählen.“
Nur wenige Datenschützer würden hierin besonders sensible Daten sehen, obgleich aus dieser Aussage die ethnische Herkunft, die sexuelle Identität und eine politische Meinung hervorgeht und „kerngesund“ als ein Gesundheitsdatum zu verstehen ist.
Ändert man den Satz, erhält man sogleich ein anderes Meinungsbild:
„Gesine Musterfrau ist asiatischer Abstammung, bekennende Lesbe, schwerhöriig und eine AfD-Wählerin.“
Bei dieser Aussage würden sich viele Datenschützer überzeugt zeigen, dass sie besonders sensible Daten enthält und daher unter dem besonderen Schutz des Art. 9 DSGVO steht.
DSGVO-Schutzmechanismus für besondere Kategorien personenbezogener Daten
Art. 9 Abs. 1 DSGVO lautet:
„Die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Ãœberzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie die Verarbeitung von genetischen Daten, biometrischen Daten zur eindeutigen Identifizierung einer natürlichen Person, Gesundheitsdaten oder Daten zum Sexualleben oder der sexuellen Orientierung einer natürlichen Person ist untersagt.“
[Hervorhebungen hinzugefügt]
- Strengere Erlaubnistatbestände
Art. 9 Abs. 2 DSGVO sieht sodann Erlaubnistatbestände vor, die eine Datenverarbeitung erheblich erschweren. Insbesondere reicht es – anders als bei nicht-sensiblen Daten (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 lit. f. DSGVO) – nicht aus, dass der Datenverarbeiter ein ´“berechtigtes Interesse“ an der Datenverarbeitung hat. Bei Daten, die besonders sensibel sind, führt zumeist kein Weg an einer Einwilligung vorbei (Art. 9 Abs. 2 lit. a DSGVO).
- Reichweite von Art. 9 DSGVO?
Muss man jetzt aber wirklich jeden Brillenträger fragen, bevor man ein Foto von ihm aufnimmt, weil die erkennbare Kurz- oder Weitsichtigkeit ein Gesundheitsdatum ist? Muss man einen Asiaten um Erlaubnis bitten, wenn man in einem Diskussionsforum auf dessen Abstammung hinweisen möchte? Darf man über den schwulen Regisseur Rosa von Praunheim Tweets publizieren, aus denen die sexuelle Orientierung hervorgeht, ohne eine Einwilligung des Filmemachers einzuholen? Ist die Parteizugehörigkeit eines Bundestagsabgeordneten ein „sensibles Datum“, das mit besonderer Vorsicht zu behandeln ist?
Insbesondere bei Fotos kursieren unter den Datenschützern Warnungen und Empfehlungen, die alle Alarmglocken schrillen lassen. Fotos von Brillenträgern? Vorsicht, Art. 9 DSGVO. Fimaufnahmen beim Christopher Street Day? Hochproblematisch, Art, 9 DSGVO. Fotos bei einem Pegida-Aufmarsch? Klarer Fall des Art. 9 DSGVO. Aufnahmen in einer Moschee? Nur mit schriftlicher Einwilligung aller Besucher.
Diskriminierendes Element
Auffällig an diesen Diskussionen ist die unterschwellige, unbewusste Diskriminierung. Denn geschützt wird, wer von der Norm abweicht. Geschützt wird nicht der heterosexuelle, gesunde und im Christentum sozialisierte weiße Europäer, sondern der „Normabweichler“. Ein vollkommenes Unding in einem Europa des 21. Jahrhunderts, das sich mehrheitlich zu Toleranz, Weltoffenheit und Diversität bekennt, es bei Diskussionen um Art. 9 DSGVO jedoch zulässt, dass Vorstellungen über die „Normalität“ zum Vorschein kommen, die man eigentlich längst hinter sich gelassen glaubt.
Grundrechtskonforme teleologische Auslegung
Die Irrwege bei der Auslegung des Art. 9 DSGVO haben eine recht einfache Ursache. Wir haben vergessen, weshalb es einst richtig war, Angaben über politische Ãœberzeugungen, Religion, Gesundheit und sexuelle Orientierung „besonders“ zu stützen. Die Nazis führten einst Listen mit Angehörigen jüdischer Gemeinden. Politische Verfolgung begann oft (z.B. in der DDR) mit einer systematischen Erfassung von „Abweichlern“. Bis in die 80er Jahre gab es in Deutschland „rosa Listen“. Diese Art der systematischen Erfassung von Ausgegrenzten, Minderheiten und Randgruppen rechtfertigt den besonderen Schutz, der Art. 9 DSGVO gewährt.
Wenn man Sinn und Zweck und die Historie des Art. 9 DSGVO nicht vollständig ausblenden möchte, muss man den Anwendungsbereich auf genau diese Fälle beschränken (ebenso für eine einschränkende Auslegung Plath in Plath (Hrsg.), DSGVO/BDSG, 3. Aufl. 2018, Art. 9 Rz. 4). Wer gezielt Personen mit Behinderungen, mit einer bestimmten ethnischen Herkunft, Religion oder politischer Ãœberzeugung erfasst, muss sich an Art. 9 DSGVO messen lassen. Wer dagegen ohne ein solches Motiv Brillenträger, Pegida-Demonstranten oder CSD-Teilnehmer fotografiert, kann sich auf „berechtigte Interessen“ nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 lit. f DSGVO stützen. Einen Grund, derartige Aufnahmen „besonders“ zu schützen, kann es in einer pluralistischen, diversen und bunten Gesellschaft nicht geben.
Ein Kommentar
Im Ergebnis stimme ich voll zu. Bei der Frage ob eine „Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten“ vorliegt, muss der Nutzungszweck bzw. der Kontext berücksichtigt werden.
Auch in der Literatur wird entsprechend vertreten, dass Datenverarbeitungen nur dann dem Verbot des Art. 9 Abs. 1 DSGVO unterliegen, wenn sich die konkrete Verwendung gegen den Schutzzweck der Regelung richtet. Mit anderen Worten: Es soll also der Verarbeitungszusammenhang relevant für die Frage sein, ob besondere Kategorien von personenbezogenen Daten verarbeitet werden (Vgl. Weichert, in: Kühling, DSGVO, 2. Auflage, Art. 9 Rn. 23, Schiff in Ehmann/Selmayr, DSGVO, 1. Auflage 20187, Art. 9 Rn. 14).
Teilweise wird hierbei differenziert und ein solche „Kontextabhängigkeit“ nur bei der ersten Gruppe besonderen Kategorien von Daten angenommen (Daten, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen).
Zudem werden ein objektiver und ein subjektiver Ansatz vertreten. Beim subjektiven Ansatz (Diesen verfolgt etwa Schulz, in: Gola, DSGVO Kommentar, 1. Auflage, Art. 9 Rn. 11.) soll die Absicht des Verarbeitenden maßgeblich sein, beim objektiven Ansatz wird danach gefragt, ob objektiv mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Verwendung im sensitiven Kontext zu erwarten ist (Vgl. auch BeckOK, 24. Edition, DatenschutzR/Albers/Veit DS-GVO Art. 9 Rn. 20af, beck-online).
Aus meiner Sicht überzeugend die vermittelnde Ansicht von Frenzel: Auch nach Frenzel kommt dem Zweck, mit dem die Daten verarbeitet werden, entscheidende Bedeutung zu, um die Verarbeitung als verboten oder als erlaubt zu qualifizieren. Eine Orientierung soll nach seiner Auffassung die subjektive Zwecksetzung bieten, die aber objektiviert werden müsse (Paal/Pauly/Frenzel DS-GVO, 2. Auflage, Art. 9 Rn. 9).