Das BVerfG hat heute zwei Entscheidungen zum „Recht auf Vergessen“ veröffentlicht (BVerfG v. 6.11.2019 – Az. 1 BvR 16/13, Recht auf Vergessen I, und Az. 1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II). Die Entscheidungen sind in vielfacher Hinsicht bemerkenswert. Nicht zuletzt weil sich die Maßstäbe des BVerfG für einen Löschanspruch gegen Google deutlich von den Maßstäben unterscheiden, die der EuGH in seiner „Google Spain“-Entscheidung entwickelt hat (EuGH v. 13.5.2014 – C-131/12, CR 2014, 460-469; dazu Arning/Moos/Schefzig, CR 2014, 447 (452 ff.), die schon damals eine Korrektur durch das BVerfG angemahnt hatten).
In dem Google Spain-Fall hatte ein spanischer Privatmann von Google verlangt, aus der Personensuche Links zu einer Zeitungsanzeige zu entfernen. Die Anzeige war im Jahr 1998 in einer Tageszeitung erschienen. Es ging in der Anzeige um die Zwangsversteigerung eines Grundstücks des Klägers.
In „Recht auf Vergessen II“ verlangte die Geschäftsführerin eines Unternehmens von Google, aus der Personensuche einen Link zu entfernen zu einem Beitrag des NDR mit dem Titel „Kündigung: Die fiesen Tricks der Arbeitgeber“. Der Beitrag stammte aus dem Jahr 2010 und befasste sich kritisch mit einer Kündigung, die die Klägerin veranlasst hatte.
Ansatz des EuGH
Der EuGH bejahte in dem „Google Spain“-Fall einen Beseitigungsanspruch. Die Verlinkung zu dem Zeitungsartikel greife in schwerwiegender Weise in die Persönlichkeitsrechte des Klägers ein. Diesen Rechten gebühre zudem grundsätzlich Vorrang vor den Informationsinteressen der Internetnutzer. Ein besonders gelagerter Fall, der die Verlinkung rechtfertige, liege nicht vor:
„Wegen seiner potenziellen Schwere kann ein solcher Eingriff nicht allein mit dem wirtschaftlichen Interesse des Suchmaschinenbetreibers an der Verarbeitung der Daten gerechtfertigt werden. Da sich die Entfernung von Links aus der Ergebnisliste aber je nach der Information, um die es sich handelt, auf das berechtigte Interesse von potenziell am Zugang zu der Information interessierten Internetnutzern auswirken kann, ist in Situationen wie der des Ausgangsverfahrens ein angemessener Ausgleich u. a. zwischen diesem Interesse und den Grundrechten der betroffenen Person aus den Art. 7 und 8 der Charta zu finden. Zwar überwiegen die durch diese Artikel geschützten Rechte der betroffenen Person im Allgemeinen gegenüber dem Interesse der Internetnutzer; der Ausgleich kann in besonders gelagerten Fällen aber von der Art der betreffenden Information, von deren Sensibilität für das Privatleben der betroffenen Person und vom Interesse der Öffentlichkeit am Zugang zu der Information abhängen, das u. a. je nach der Rolle, die die Person im öffentlichen Leben spielt, variieren kann.“
(EuGH v. 13.5.2014 – Rs. C-131/12, CR 2014, 460 Rz. 81; Hervorhebung hinzugefügt)
Ansatz des BVerfG
Das BVerfG geht dagegen von keinem Vorrang der Persönlichkeitsrechte aus, sondern betont die Gleichrangigkeit anderer Grundrechte:
„Auf der Basis des maßgeblichen Fachrechts sind dabei die Grundrechte der einen Seite mit entgegenstehenden Grundrechten der anderen Seite in Ausgleich zu bringen … Entsprechend der gleichberechtigten Freiheit, in der sich Datenverarbeiter und Betroffene privatrechtlich gegenüberstehen, bestimmt sich der Schutz der Grundrechte nach Maßgabe einer Abwägung.“
(BVerfG v. 6.11.2019 – 1 BvR 276/17, Rz. 96)
Anders als der EuGH stellt das BVerfG zudem nicht nur die unternehmerische Freiheit von Google (Art. 16 GRCh) und die Informationsinteressen der Nutzer (Art. 11 GRCh) in die Abwägung ein, sondern auch die Meinungsfreiheit der Inhalteanbieter:
„In dieser Konstellation kann über den Antrag eines Betroffenen auf Unterlassung des Bereitstellens von Suchnachweisen gegenüber einem Suchmaschinenbetreiber nicht ohne Berücksichtigung der Frage entschieden werden, ob und wieweit der Inhalteanbieter gegenüber den Betroffenen nach Art. 11 GRCh zur Verbreitung der Information berechtigt ist.“
(BVerfG v. 6.11.2019 – 1 BvR 276/17, Rz. 109)
Der entscheidende Unterschied
Dies ist keine Petitesse: In seiner „Google Spain“-Entscheidung hatte der EuGH die Frage, ob die verlinkten Inhalten rechtmäßig oder rechtswidrig waren, für unerheblich erachtet (EuGH v. 13.5.2014 – Rs. C-131/12, CR 2014, 460 Rz. 83 ff.). Das BVerfG meint dagegen, dass diese Frage stets zu prüfen sei.
Das BVerfG stellt durch seine Entscheidung eine Grundrechtsbalance wieder her, die seit der „Google Spain“-Entscheidung aus den Fugen zu geraten drohte ( siehe Arning/Moos/Schefzig, CR 2014, 447 (452 ff.)). Zugleich erklärt sich das BVerfG – erstmalig – für zuständig, über Verstöße gegen europäische Grundrechte selbst zu entscheiden (BVerfG v. 6.11.2019 – 1 BvR 276/17, Rz. 50 ff.). Dies lässt drauf hoffen, dass man sich in Deutschland auch in Zukunft auf eine Rechtsprechung verlassen kann, die die Persönlichkeitsrechte der Bürger und die Meinungs-, Presse- und Kommunikationsfreiheit sorgsam abwägt.
Fazit
Einen Vorrang der Persönlichkeitsrechte oder des Datenschutzes vor der freien Kommunikation gibt es nicht.