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Verzagtes Versagen: Rechtsstaat, Datenschutz, Corona

avatar  Niko Härting

Ein halbes Jahr nach Beginn der Coronakrise haben sich weite Teile der Republik an den rechtsstaatlichen Ausnahmezustand gewöhnt. Grundrechte werden nach wie vor auf dem Verordnungsweg beschränkt, „Corona-Maßnahmen“ im Zwei-Wochen-Takt neu justiert. Parlamente, Gerichte, Datenschützer und Bürgerrechtler leisten erstaunlich wenig Widerstand. Rechtsstaatliche Sicherungen versagen in einem Ausmaß, das man vor Corona nicht für möglich gehalten hätte.

Das Versagen der Datenschützer

Gewöhnung an Datenspuren:  Seit drei Monaten haben wir uns daran gewöhnt, im öffentlichen Leben auf Schritt und Tritt Formulare auszufüllen und Datenspuren zu hinterlassen. Im Lokal und beim Friseur, in der Behörde und in der Bank, sogar im Bordell und im Sexkino. Dies alles ohne Parlamentsgesetz aufgrund ständig wechselnder Landesverordnungen auf dem dünnen Eis eines Paragraphen, der „notwendige Schutzmaßnahmen“ auf dem Verordnungsweg ermöglicht.

Ohne Widerstand:  Wer hätte vor Corona gedacht, dass all dies möglich ist, ohne dass es auch nur verhaltenen Widerspruch der Datenschützer gibt? Den Datenschutzbehörden fällt zu Corona wenig ein. Zum Teil erfassen sie selbst fleißig die Kontaktdaten ihrer Besucher und publizieren Formulare für die Kontaktdaten. Und die Datenschutzgemeinde diskutiert lieber über Cookie-Banner und datenschutzkonforme Videotools statt über die ausufernde Corona-Datensammelwut.

  • Wer fragt eigentlich danach, wie oft Gesundheitsämter die vielen Kontaktdaten tatsächlich abrufen?
  • Wer fragt nach der Effizienz der Corona-Warn-App, mit der viele von uns tagtäglich auf Schritt und Tritt unsere Bewegungen „teilen“?

Im Windschatten des Rechtsstaats:  Das Versagen der Datenschützer ist ein Abbild des Versagens rechtsstaatlicher und bürgerrechtlicher Sicherungen an breiter Front. In der Pandemie gewinnt man den Eindruck, dass jedes Mittel recht ist, solange Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern der Welt gut über die Runden kommt.

Ultimatum:
Wer interessiert sich eigentlich noch für Datenschutz, für den Gesetzesvorbehalt und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn Corona tödlich sein kann?

Die ewige „Stunde der Exekutive“

„Notwendige“ Eingriffe:  Der Deutsche Bundestag lässt es zu, dass das Corona-Land seit einem halben Jahr per Rechtsverordnung regiert wird. Die Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) sind rechtsstaatlich dünnstes Eis, ermächtigen sie doch die Landesregierungen – ohne weitere Voraussetzungen oder Anforderungen – zu „notwendigen Schutzmaßnahmen“. Jeder Jurastudent wäre vor Corona durchgefallen, wenn er dies in einer Klausur als Legitimation für weitreichende und anhaltende Grundrechtseingriffe hätte ausreichen lassen.

Trotz Parlamentsvorbehalt:  Der Bundestag hat bislang keinen nennenswerten Versuch unternommen, das Heft des Handelns wieder an sich zu ziehen. Die „Stunde der Exekutive“ zieht sich immer weiter in die Länge. Dies ist ein schweres Versagen des Parlaments.

16 Landesparlamente in Schockstarre

Wesentlichkeitstheorie:  Es versagt nicht nur das Bundesparlament. Auch die 16 Landesparlamente scheinen sich für Corona nicht für zuständig zu halten. Dies obwohl sie jederzeit imstande wären, das Heft des Handelns an sich zu ziehen und selbst über Corona-Maßnahmen zu entscheiden. Dass es in keinem einzigen Bundesland auch nur nennenswerte Initiativen für ein Landes-Coronagesetz gibt, ist ein Armutszeugnis für die Landesparlamente.

Die Verzagtheit der Opposition

Wesentlichkeitspraxis:  Das Versagen der Parlamente ist vor allem auch ein Versagen der Opposition. Sowohl nach dem Selbstverständnis der  Grünen als auch nach dem Parteiprogramm der FDP gehören Bürgerrechte zur eigenen DNA. Dennoch gibt es aus keiner der Parteien Vorstöße, die Corona-Maßnahmen nicht länger einer informellen SöderLaschet-Runde zu überlassen, sondern Wesentliches – wie es sich im Rechtsstaat gehört – durch die Parlamente zu regeln.

Unrühmliches von den Verwaltungsgerichten

Trägheit judikativer Mittel:  Dass rechtsstaatliche Sicherungen durchbrennen, ist leider auch bei den Gerichten zu beobachten. Eilanträge erledigen sich bei den Verwaltungsgerichten oft bereits durch Zeitablauf. Man behandelt die Anträge nicht mit Dringlichkeit.

Flucht ins Ziel:  Wenn Verwaltungsgerichte dann tatsächlich einmal einen Fall entscheiden, flüchten sie sich in eine Folgenabwägung. Lässt sich nicht ausschließen, dass durch eine Maßnahme Krankheiten verhindert oder Leben gerettet werden können, reicht dies den Gerichten aus, um Rechtsschutz im Eilverfahren zu verweigern.

Funkstille in Karlsruhe

In Ruhe (ab-)wägen:  Auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) spielt eine unrühmliche Rolle. Im April hatte sich Karlsruhe in Entscheidungen zu Versammlungen und Gottesdiensten noch um rechtsstaatliche Leitplanken bemüht. Seitdem herrscht Funkstille. Seit Mai hört man auch vom BVerfG nur noch die immergleiche Spurrille der Folgenabwägung.

„o tempora, o mores“ – ohne obiter dicta:  Die Entscheidungen sind zum Teil so spärlich begründet, dass man einen Qualitätsverfall der Karlsruher Rechtsprechung befürchten muss. Nicht einmal zu dem beim BVerfG ansonsten sehr beliebten rechtsstaatlichen Fingerzeig im Nebensatz (obiter dictum) ringt man sich durch.

Kein gutes Jahr für den Rechtsstaat

Man muss die Corona-Politik und die Corona-Maßnahmen der Landesregierungen nicht in Bausch und Bogen verdammen. Und es ist zu hoffen, dass die Zeit zeigen wird, dass man in Deutschland die Pandemie besser bekämpft hat als anderswo.

Eine Frage des Prinzips:  Man muss weder „Impfgegner“ noch „Coronaleugner“ noch Verschwörungstheoretiker sein. Als Jurist, Bürgerrechtler und Datenschützer muss man dennoch darauf bestehen, dass der gute Zweck die Mittel nicht heiligt. Um den deutschen Rechtsstaat und die Datenrepublik Deutschland ist es im Jahre 2020 nicht gut bestellt.

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Mehr zum Autor: RA Prof. Niko Härting ist namensgebender Partner von HÄRTING Rechtsanwälte, Berlin. Er ist Mitglied der Schriftleitung Computer und Recht (CR) und ständiger Mitarbeiter vom IT-Rechtsberater (ITRB) und vom IP-Rechtsberater (IPRB). Er hat das Standardwerk zum Internetrecht, 6. Aufl. 2017, verfasst und betreut den Webdesign-Vertrag in Redeker (Hrsg.), Handbuch der IT-Verträge (Loseblatt). Zuletzt erschienen: "Datenschutz-Grundverordnung".

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