Die Haftung von Online-Plattformen für rechtsverletzende Inhalte ihrer Nutzer beschäftigt die Rechtspraxis schon lange. Grundlage für Ansprüche sind gesetzliche Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche, z.B. über § 1004 BGB, § 97 UrhG, § 8 UWG usw.
Bei diesen gesetzlichen Ansprüchen liegen einige Einschränkungen in der Natur der Sache: Grundsätzlich kann nur Abwehr konkreter Verletzungen, d.h. Inhalte gefordert werden, nicht hingegen weitergehend z.B. die Suspendierung eines konkreten Nutzers (denn dies ginge über das Abstellen der konkreten Verletzung hinaus!). Zudem: Klagen kann ich regelmäßig nur, wenn mein (!) subjektives absolutes Recht verletzt wurde. Begegnet mir auf Twitter eine Holocaustleugnung, werde ich – mangels Verletzung eigener absoluter Rechte – hiergegen nicht vorgehen können.
1. Vertragspflicht zur Durchsetzung der Community Standards?
Soweit ersichtlich haben Gerichte Löschansprüche gegen Plattformen hingegen noch nie unmittelbar auf die Community Standards gestützt.
Dabei ist der Gedanke naheliegend: Wenn Plattformen in ihren Community Standards bestimmte Verhaltensweisen untersagen, und die Nutzer eine gewisse berechtigte Schutzerwartung gegenüber “ihrer” Plattform haben dürfen – können die Nutzer die Durchsetzung der Community Standards dann nicht auch verlangen?
Falls ja, wäre dies potentiell disruptiv. Denn: Die Verletzung von Community Standards könnte der Nutzer wohl auch geltend machen, ohne dass eine Verletzung absoluter Rechte vorliegen muss. Und: wenn die Plattform in ihren AGB bestimmte Akteur:innen als solche ausschließt (z.B. Nazigruppen) – kann man das dann nicht auch verlangen?
2. Musterverfahren am LG Berlin
Nunmehr sind erste Musterverfahren anhängig, die letztlich genau diese Fragen klären könnten – und zwar vor dem Landgericht Berlin:
2.1. HateAid / EUJS v. X bzw. Twitter
Im Verfahren zum Az. 27 O 52/23 klagen Twitter-Nutzer:innen, unterstützt durch die NGOs HateAid sowie European Union of Jewish Students (EUJS) gegen Twitter bzw. X (PM der NGOs hier), und zwar u.a. auf Löschung von antisemitischen Kommentaren. Das Besondere: Die Klage wird auf die Verletzung der AGB gestützt bzw. ausdrücklich darauf, dass “X” die eigenen Richtlinien zu Hass schürendem Verhalten nicht konsequent anwendet. Da sich die Klage offenbar gerade auf Fälle stützt, in denen eine Verletzung absoluter Rechte ausscheidet (Holocaustleugnungen), wird das LG Berlin genau die Frage klären müssen, ob Nutzer hier einen vertraglichen Anspruch herleiten können.
2.2. DUH v. Meta
Im Verfahren 27 O 97/22 klagt der Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe e.V. (DUH) gegen Meta, wobei der Klageantrag ausdrücklich darauf gerichtet ist, dass Meta bestimmte Facebook-Gruppen löschen soll. Hintergrund ist, dass es in den Facebook-Gruppen offenbar zielgerichtet immer wieder zu Angriffen gegen den Kläger kommt.
Gestützt auf die hergebrachte Störerhaftung hätte der Kläger sicher gute Karten mit einem auf Löschung/Verhinderung der Inhalte gerichteten Antrag. Der Antrag geht aber weiter und verlangt gerade die Stilllegung der Gruppe! So weitgehend wurde die gesetzliche Unterlassungshaftung bisher nicht gehandhabt. Aber vielleicht helfen vertragliche Ansprüche? Schaut man sich die Facebook-Richtlinien an, so erfährt man, dass „Seiten und Gruppen, die wiederholt gegen die Facebook-Community Standards verstoßen“, entfernt werden. Kann der Kläger dies dann auch verlangen? Evtl. wird das Gericht hier zumindest prüfen, ob sich nicht ein Anspruch aus den Richtlinien selbst ergibt, ggfs. – da der Kläger wohl nicht Facebook-Nutzer ist – aufgrund einer Schutzwirkung zugunsten Dritter (Ansatz wäre: soziale Netzwerke wollen die Diskussion über Personen/Geschehen der Zeitgeschichte; wenn prominente Akteure dann gezielt angegriffen werden, könnten sie vom Schutzbereich der Hassrede-Richtlinien usw. erfasst sein).
3. Wie geht es weiter?
Erstaunlicherweise wurden die genannten Rechtsfragen kaum diskutiert. Zu groß war der Fokus auf die Störerhaftung! Ich selbst wurde auf die Idee zur vertraglichen Durchsetzung zuerst vor ca. 2 Jahren aufmerksam, als mich Alexander Ritzmann vom Counter Extremism Project (CEP) hierauf ansprach (vgl. den Austausch hier).
Im aktuellen August-Heft der CR habe ich meine Überlegungen dazu noch einmal ausführlich festgehalten, inkl. Ausblick darauf, was der Digital Services Act (DSA) dazu sagt: „Mit AGB gegen Hass im Netz: Kann man Online-Plattformen zwingen, ihre Community Standards durchzusetzen?“
M.E. zeigt sich: Das neue Kapitel der Providerhaftung kann aufgeschlagen werden: Vertragliche Ansprüche auf Durchsetzung der Community Standards können bestehen – nicht grenzenlos, aber doch beachtlich; zudem kommt es teils auch auf den Wortlaut der Plattform-Richtlinien an. Daneben ist interessant, dass der DSA die privatrechtliche Durchsetzung der Community Standards auch noch einmal autonom begründen kann.
Ob man dem folgt oder nicht – Spannend bleibt es allemal. Eine erster Verhandlungstermin des LG Berlin ist nunmehr für November 2023 angesetzt. Die beteiligten NGOs werden sicherlich gewillt sein, die Sachen ggfs. höchstrichterlich klären zu lassen. Aufmerksamkeit haben die Verfahren schon jetzt: Über die Klage gegen X/Twitter hat bereits der britische Guardian berichtet, was wiederum sogar Elon Musk zu einem Tweet hingerissen hat.